|
Der Brockenwicht: Seite 99
»Lass uns vielleicht mal eine kurze Pause machen und was trinken«, schlug ich vor. »Wir haben da noch irgendeinen Apfelsaft, oder?« »Ja, der ist bei mir im Rucksack«, bestätigte Geli. Wir ließen uns auf einem größeren flachen Stein nieder, der einige Schritte von dem Schildchen entfernt auf der rechten Seite neben dem Weg lag. Die schöne Ilse erzählte uns ihre Geschichte und wir saßen eine Zeit lang verschwiegen da und nippten abwechselnd an der Packung mit dem süßsäuerlichen Inhalt. Der Saft tat gut. Ein wenig Kalorien brauchte der Körper, denn die Erbsensuppe von heute Mittag war schon längst verdaut und wir hatten seit unserem Aufenthalt im Café des Brockenhauses keine nennenswerte Pause gemacht. Seitdem waren schon mehrere Stunden vergangen, aber ich hatte dennoch keinen großen Hunger wie meine liebe Frau anscheinend auch, denn sie erwähnte mit keinem Wort die gekochten Eier, die sie auf dem Brocken während des Sturms so vermisst hatte und bald in Tränen ausgebrochen wäre von der Vorstellung, sie würde nie wieder in ihrem Leben den betörenden Geschmack von Frühstückseiern im Munde spüren, bevor gleich ihre letzte Stunde auf dem Hirtenstieg schlug. Die Eier lagen seitdem unberührt ganz unten in meinem Rucksack und alles deutete darauf hin, dass wir sie in diesem Zustand auch zurück nach Hause bringen würden. »Wenn das nicht unser Pärchen von vorhin ist, das uns gerade einholt«, äußerte ich meine Vermutung, als ich zwei wandernde Figuren auf der Schotterstraße sah, die sich uns in einem beneidenswerten Tempo näherten, als hätten sie Siebenmeilenstiefel an. »Glaubst du?«, zweifelte meine Frau noch. »Klar, ich habe meine Brille an. Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind es.« Es dauerte nicht allzu lange, bis das junge Wanderpaar uns spielerisch leicht eingeholt hatte. Wir grüßten uns wie alte Bekannte, während die jungen Leute ebenfalls vor dem Schildchen anhielten und sich recht aufmerksam die Beschreibung der Verdeckten Ilse durchlasen. Sie blieben noch eine Zeit lang stehen und hörten dem Rauschen und dem Gluckern des unterirdischen Wasserfalls zu. »Man sieht sich«, verabschiedete sich der Junge noch scherzhaft zum Schluss, bevor die beiden an uns vorbeimarschierten und schon ein paar Minuten später so weit von uns entfernt waren, dass kaum noch Hoffnung auf ein Wiedersehen bestand.
(?)
»Wir müssen jetzt auch mal langsam weiter«, sagte ich, nachdem wir die Apfelsaftpackung beinahe geleert hatten. »Okay«, stimmte Geli zu und fragte: »Wie weit ist es noch?« »Willst du mich ärgern?«, reagierte ich ungehalten. »Ich war noch nie hier, ich habe keine Ahnung! Wir sind noch nicht einmal an der Bremer Hütte. Dort an den Ilsefällen könnte ich dir sagen, wie weit es noch ist!« Gleichwohl führte mir die Frage ganz deutlich vor Augen, dass wir uns wirklich hätten beeilen sollen, wenn wir noch bei Tageslicht zu Hause sein wollten. Der Tag war noch keineswegs zu Ende, aber die Sonne hatte sich unterdessen hinter dem Berg verkrochen und, was mich am meisten beunruhigte, die pechschwarze Dunstblase glitt unaufhaltsam den Hang hinunter und hatte bereits einen Teil des Brockenbetts erfasst. Der Himmel zog sich langsam zu und es wurde immer dunkler, doch wir hatten uns von dem mysteriösen Berg noch nicht wesentlich weiter entfernt, als es vor einer Stunde auch schon der Fall gewesen war. Wir krebsten immer noch an seinem Fuße herum und es wurde höchste Zeit, dass sich etwas daran änderte. »Dann wollen wir mal«, sagte ich und fügte hinzu: »Der Kühne macht den Anfang!« Es waren Harrys Worte, die mir aus irgendeinem Grunde eingefallen waren, wahrscheinlich, weil er sie irgendwo hier bezüglich der Ilse und ihrem Sprung in die Freiheit gedacht hatte. Telepathie war am Ende doch eine ganz gute Sache! Wir gingen los und der Schotter raschelte wieder unter unseren Füßen. Der abschüssige Weg gab mir die Zuversicht, dass wir die Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg früh genug abschließen würden, um noch im Anschluss etwas fürs Abendessen in Bad Harzburg einkaufen zu können. Das Gefälle war sogar noch etwas größer geworden, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass wir uns endgültig vom Brocken verabschiedeten. Am Horizont tauchte eine intakte dunkle Waldung auf, vermutlich das, was der Brockenwicht als den Schwarzen Wald bezeichnet hatte. »Sag mal«, wandte ich mich gedanklich an ihn. »Was ich dich schon vor einer Stunde fragen wollte: Wo bist du denn jetzt eigentlich? Du sitzt doch nicht wirklich in meinem Kopf, oder?«
|
Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden
KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
Zahlen & Daten zum Werk
![]() Ihre Spende ist willkommen!Wir stellen Ihnen gerne alle Inhalte unserer Webseite kostenlos zur Verfügung. Sie können die Werke auch in der E-Book-Version jederzeit herunterladen und auf Ihren Geräten speichern. Gefallen Ihnen die Beiträge? Sie können sie alle auch weiterhin ohne Einschränkungen lesen, aber wir hätten auch nicht das Geringste dagegen, wenn Sie sich bei den Autoren und Autorinnen mit einer kleinen Zuwendung bedanken möchten. Rufen Sie ein Werk des Autors auf, an den Sie die Zuwendung senden wollen, damit Ihre Großzügigkeit ihm zugutekommt.Tragen Sie einfach den gewünschten Betrag ein und drücken Sie auf "jetzt spenden". Sie werden anschließend auf die Seite von PayPal weitergeleitet, wo Sie das Geld an uns senden können. Vielen herzlichen Dank! Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||



