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Der Brockenwicht: Seite 96
Ein Gedanke beschäftigte mich, während Angelina mit dem Stempelkissen kämpfte und Probe stempelte, um einen sauberen Abdruck auf dem feuchten Papier der Broschüre hinzubekommen. Oder besser gesagt, es war ein Bild, das in meinem Kopf schwebte – ich versuchte neuerdings, in Bildern zu denken, wenn ich über Dinge nachdachte, die den Brockenwicht nicht im Geringsten etwas angingen. Das Bild erstreckte sich direkt vor meinen Augen über die komplette Flanke des Brockens. Ich hatte es schon registriert, als ich vorhin mit dem Blick nach dem Pärchen gesucht hatte, das gerade am Tisch seinen Imbiss einnahm, aber es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, sich darüber Gedanken zu machen. Ich glaubte nunmehr, der König Irrtum hatte vorübergehend Besitz von meiner geistigen Kraft ergriffen, als ich zuvor angenommen hatte, dass der plötzliche Wechsel der Lichtverhältnisse ein Zeichen für die endgültige Niederlage desjenigen war, der für uns am Brockenbett wieder die volle Sonnenbeleuchtung einschaltete, nachdem er die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens eingesehen hatte. Nichts dergleichen war geschehen. Von der Seite sah es eher so aus, dass wir die geheimnisvolle dunkle Blase, die den Berg umhüllte, nur mit sehr viel Glück hatten verlassen können. Wie eine gewaltige Glocke hing der Dunst über dem Berg, man konnte die Umrisse ganz deutlich erkennen, denn das Massiv lag vor uns wie auf einem Präsentierteller inmitten der vom Borkenkäfer geschändeten Landschaft. Wir hatten zwar diese mysteriöse magische Grenze am Brockenbett – offenbar gab es sie wirklich – sprunghaft überwunden und die heile Welt hatte uns mit hellem Licht und warmen Sonnenstrahlen empfangen, aber hinter unserem Rücken hatte sich nicht das Geringste verändert. Nach wie vor herrschte unheilvolles Zwielicht jenseits der unsichtbaren Grenze, die keine zwanzig Meter von hier die Brockenstraße querte, und je weiter man hinaufschaute, desto dunkler und unheimlicher erschien die Gegend. Hier war tatsächlich der Punkt, wo der Einfluss der dunklen Macht dieses Berges endete oder für manch einen erst anfing – alles hing vom Blickpunkt des Betrachters ab. Für mich hatte heute alles auf der anderen Seite des Berges angefangen und endete hier, und für das junge Pärchen würde gleich hier der Anfang sein. Aber vielleicht wollten die beiden gar nicht nach oben, ich hatte gar keine Vorstellung davon, woher sie kamen, wohin sie gingen und was sie noch vorhatten. Und ich glaubte, ich wollte es auch gar nicht wissen. Trotz alledem hatte die Glocke aus diesem magischem Dunst noch eine sehr merkwürdige Eigenschaft, denn ich erinnerte mich, dass wir heute auch überaus sonnige Abschnitte gehabt hatten, als wir beispielsweise auf der Brockenspitze verweilt hatten oder auf der Brockenstraße auf dem Weg nach unten gewesen waren. Nichts hatte die Sonnenstrahlen daran gehindert, uns Schweißperlen auf die Stirn zu treiben und zum Ausziehen der Regenjacken zu zwingen, kein Dunst und kein Nebel. Dennoch konnte ich die Bergspitze im Augenblick nicht sehen. Dort, wo ich sie aktuell vermutete, herrschte finstere Nacht. Wie konnte man das erklären? Ich hatte keine Ahnung.
(?)
»Was glaubst du, mein Wicht?« fragte ich den Kleinen, artikuliert nach allen Regeln seiner seltsamen Telepathielehre. Ich war mir sicher, dass er gelauscht und das eine oder andere mitbekommen hatte. »Brockenwicht, bitte«, folgte prompt eine trockene Belehrung. »Entschuldigung. Was glaubst du, mein Brockenwicht?« »Ein Gewitter ist aufgezogen«, lautete die Antwort. Ich stellte mir gleich das Bild von Pinocchio vor, bei den die Nase gerade um drei weitere Zentimeter auf einen Schlag gewachsen war, und setzte ihm gedanklich den Zapfenhut vom Wicht auf. Der langnasige Kobold sah niedlich aus und vermittelte den Eindruck, als würde er seine Hände in reiner Unschuld waschen! Ich wollte es dem kleinen Schuft ersparen, dass er meine Meinung als Klartext hörte. Möglicherweise hatte er seine Gründe, warum er mit der Wahrheit so sparsam umging. Geli war fertig mit Stempeln, zeigte mir ihr Wunderwerk und klappte das Türchen des Kastens der Harzer Wandernadel zu. »Ist es noch weit?«, fragte sie naiv. »Neuneinhalb Kilometer! Für Ungläubige steht alles noch einmal dort auf dem Wegweiser, in Eisen gegossen!«, spöttelte ich zur Antwort. Es war Viertel vor vier. Ungeachtet all unserer Abenteuer, Begegnungen und Aufenthalte lagen wir gut im Zeitplan. Okay, zugegeben, es gab natürlich keinen genauen Plan, es gab nur meine Schätzung, die ich noch auf dem Parkplatz in Ilsenburg vorgenommen hatte, aber die zehn Stunden, die ich veranschlagt hatte, waren ziemlich realistisch. Demnach mussten wir gegen sechs oder um halb sieben wieder an unserem Auto sein. Das kam meines Erachtens ungefähr hin, denn die knapp zehn Kilometer würden wir in zwei bis zweieinhalb Stunden schaffen, nahm ich an. Auch wenn die Wanderung kraft gewisser Umstände eine unerwartete Wendung genommen hätte und es zu Verzögerungen gekommen wäre, führte der Weg nur bergab, sodass wir auf anderen Abschnitten einfach überdurchschnittlich schnell vorankommen mussten. Außerdem hatte ich entschieden, dass wir uns nicht mehr auf dem engen steinigen Wanderpfad durch das Ilsetal mühen, sondern gleich die breite Schotterstraße nehmen würden. Es war nebenbei auch eine recht wirksame Methode, um unerwünschten Begegnungen, egal welcher Art, aus dem Weg zu gehen, – die Straße war breit und in alle Richtungen weit genug einsehbar, um nicht unversehens einem örtlichen Krampus in die Arme zu laufen.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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