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OPEN DIGITAL LITERATURE PROJECT
Der Brockenwicht: Seite 97

»Los geht's«, verkündete ich den Aufbruch, nachdem wir noch etwas Wasser getrunken und den jungen Leuten zum Abschied gewinkt hatten.

»Wird es sehr steil?«, wollte Geli noch wissen.

»Woher soll ich denn das wissen?«, erwiderte ich. »Ich denke eher nicht, nur stellenweise vielleicht.« Ich erinnerte mich an die Ilsefälle, wo sich auch die Schotterstraße recht steil nach unten schlängelte. »Auf jeden Fall, ich pass auf dich auf! Wegen deinem Knie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dich nicht zurücklassen.«

»Als ob ich den Weg nicht selbst finde«, parierte sie meine Stichelei zum Schluss.

Das war also das Quellgebiet der Ilse, sinnierte ich vor mich hin, während wir große Schritte auf der Schotterstraße machten, die uns entlang der Ostflanke des Brockens zurück zu der Bremer Hütte führte, – das Quellgebiet der »lieblichen, süßen Ilse«, wie sich mein dichterischer Freund auszudrücken pflegte, der zurzeit im Hotel oben auf dem Berg weilte und sich vermutlich schon auf die feuchtfröhliche Nacht freute, die ihm bevorstand. Erst morgen in der Früh würde Harry diese Gegend durchwandern, nachdem er und seine Trinkkumpanen sich von den »empfänglichen Hausmädchen« mit »Spuren glücklicher Liebe auf deren Gesichtern« verabschiedet haben würden. Und obwohl er einen ordentlichen Kater gehabt haben musste, hatte ihn das Sumpfgebiet, dem die Ilse entsprang, auf eine besondere Weise inspiriert. Er schrieb von »buntgekleideten Burschen«, die durch das »Dickicht drangen«, an den »rankenden Wurzeln kletterten« und in »ergötzlichsten Tonarten emporjohlten«, worauf sie eine lustige Antwort »von den zwitschernden Waldvögeln zurückerhielten«, von der Sonne, die ihre »festlichsten Strahlen herabgoss«, von »rauschenden Tannen« und von »unsichtbar plätschernden Quellen«. Ich versuchte, mir die Szene bildlich vorzustellen, indem ich mir das heutige Brockenbett unermüdlich ansah und wenigstens nach einem klitzekleinen verborgenen Hinweis auf die ehemalige Pracht der Geburtsstätte der zauberhaften Ilse Ausschau hielt. Meine Anstrengungen wurden jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Die Idylle, die Heine in seinen Schriften so unnachahmlich schön festgehalten hatte, war endgültig zerstört. Abgenagte Baumstämme lagen kreuz und quer übereinander so weit das Auge reichte, es zwitscherten keine Vögel, die Sonne warf zwar noch die letzten Strahlen auf die Gegend, aber der Tag neigte sich schon dem Abend, sie stand nicht mehr so hoch und würde in Kürze gänzlich hinter dem Berg im Westen verschwinden, denn wir gingen langsam in den Schatten des Brockens hinein. Zu allem Überfluss war die Nebelblase über dem Berg noch dunkler geworden als zuvor und ich hatte den Eindruck, dass sie sich langsam, aber unaufhaltsam an der Bergflanke hinunterbewegte und einen Baum nach dem anderen an dem Hang unwiederbringlich unter sich begrub.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Plötzlich hörte ich ein leises eigenartiges Rauschen, fast schon ein Rascheln, das an ein kaum hörbares Plätschern eines Rinnsals erinnerte. Es hatte seinen Ursprung allem Anschein nach an den umgefallenen Baumstämmen zu meiner Linken und kam mir bekannt vor. War es das unterirdische Gewässer, das Harry erwähnt hatte? Endlich ein Zeichen, dass noch nicht alles verloren war! War es wirklich die Ilse, die unsichtbar unter den großen Steinblöcken zwischen den Stämmen dahinrauschte?

»Was ist es für ein Geräusch?« Meine Frau hörte es auch.

»Hihihi«, meldete sich auf einmal auch der Wicht.

Er war zwar ein überaus geheimnisvoller Geselle und seine Wege waren größtenteils unergründbar, aber eins hatte ich von ihm gelernt: Wenn sein dümmliches »Hihihi« in der Gegend erklang, konnte man ruhig davon ausgehen, dass von irgendeiner Seite ernste Gefahr drohte. Welche war es diesmal, fragte ich mich, während ich chaotisch in alle Richtungen sah und keinen entdecken konnte, der uns etwas Böses antun wollte. Und plötzlich fiel es mir wieder ein, wo ich das Geräusch gehört hatte! Es war mitnichten die bezaubernde Ilse, vielmehr waren es die Schattenwesen, deren Geflüster ich schon in der Türmchenstadt gehört hatte, jene grauen Gestalten, die sich sehr geschickt jedem Blick entzogen und die mich im Hexenwald beinahe zur Strecke gebracht hatten. Brockenwicht nannte sie Schattenzwerge. Ich hatte sie noch nie wegen ihrer flinken Art vor die Augen bekommen und wusste nicht, ob sie wie normale Gartenzwerge aussahen oder auch hässliche Züge einer höllischen Kreatur in ihrem Antlitz trugen, aber daran, dass sie gefährlich waren, bestand kein Zweifel, ich hatte es am eigenen Leibe erfahren und wollte auf gar keinen Fall eine nähere Bekanntschaft mit ihren kleinen Beißerchen machen, mit denen sie offenbar imstande waren, Baumstämme durchzunagen. Bloß nicht stehen bleiben, erinnerte ich mich daran, wie die allererste Regel bei Begegnungen mit Schattenzwergen lautete, und sah zu, dass wir zügig weiterkamen.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.859
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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