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Der Brockenwicht: Seite 9
Heine war während meiner Selbstoffenbarung stumm wie ein Fisch geblieben und hatte keine Notiz von mir genommen. Ich hatte den Eindruck, dass das Bild, das sich seinem Blick bot, ganz anders war als das, was ich mit meinen Augen sah. Er war einfach in seiner Zeit und ich in meiner, und dazwischen lagen zweihundert Jahre. Nur dass ich ihn sehen konnte. Er war eine Vision, ein Produkt meiner Fantasie und konnte mit mir gar nicht reden. Obwohl … Man hätte sich auch einen sprechenden Heine ausdenken können! Wieso war es mir denn nicht schon früher eingefallen? Nun hatte ich einen stummen Heine, der mit seinem altmodischen Wanderranzen neben mir auf dem Heinrich-Heine-Weg lief. Er sah sich alles sehr aufmerksam an, lächelte ab und zu geheimnisvoll und bewegte dabei seine Lippen, als wenn er etwas leise vor sich hin sprach, was er unbedingt zuerst hören musste, um ein Urteil bilden zu können, ob es wohl klang und das Herz berührte. Ich vermutete, dass er gerade seine Eindrücke von diesem Tal in eine dichterische Form brachte und sich selbst die entstandenen Verse vortrug. Vielleicht diese:
»Ich bin die Prinzessin Ilse, Und wohne im Ilsenstein; Komm mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein.«
Waren es tatsächlich die ersten Versuche, seine Fassung der alten Sage von Herzog Heinrich und der Prinzessin Ilse aus dem Felsenreich zusammenzureimen? Ich konnte nicht von den Lippen lesen und sollte es nie erfahren, wie er die unbeschreibliche »Fröhlichkeit, Naivität und Anmut« der kleinen Ilse zum Ausdruck bringen wollte. Wir liefen noch ein Stückchen nebeneinanderher, ehe Heine nach links abbog und zwischen den Bäumen verschwand. Ich wunderte mich ein wenig, wo er denn eigentlich durch den Wald hinwollte, als es mir wieder einfiel, dass er immer noch in seiner eigenen Zeit war. Es hatten früher vermutlich Wege existiert, die es heute nicht mehr gab, aber Harry konnte nur sie sehen und auch nur ihnen folgen.
(?)
Der für uns mit Angelina sichtbare Pfad führte zu einer Lichtung, die schon von Weitem etwas seltsam anmutete. Es wurde gespenstisch still, als wir uns den merkwürdigen Bauten auf dem geräumigen Platz näherten, sogar die Ilse senkte respektvoll ihren Geräuschpegel und die Vögel gaben keinen Laut von sich. Zu dem Ort fiel mir nur eine einzige Bezeichnung ein und es war nicht »Garten Eden«. »Hexenstadt!«, sagte ich scherzhaft. Wahrlich, das Ganze sah aus wie eine Stadt in Miniatur. Über die gesamte Fläche der Lichtung waren Türmchen, Pyramidchen, Häuschen und andere Bauten verstreut, deren Bestimmung sich mir nicht erschließen wollte. Sie bestanden alle aus aufeinandergetürmten Steinen verschiedenster Größe und reichten mir höchstens bis zu Gürtellinie. Es erinnerte sehr an Bilder einer antiken halbzerstörten Tempelanlage irgendwo im Dickicht des Urwaldes in Südostasien, die man aus der Vogelperspektive betrachtete. Ich fand es ziemlich aufregend, so eine Märchenstadt im Wald zu finden, und rätselte über ihre Entstehungsgeschichte, während meine Frau die Steinsiedlung in ihrem Smartphone in Form von Lichtbildern dokumentierte. »Wer zum Teufel …«, sprach ich mehr zu mir selbst als zu ihr, »Wer zum Teufel hat hier so etwas errichtet?« »Wanderer«, mutmaßte Geli. »Das glaube ich kaum!«, widersprach ich ihr. »Es dauert Tage, bis du die Steine so passend aufeinandergeschichtet hast, dass sie nicht auseinanderfallen.« »Das stimmt nicht. Steintürmchen habe ich schon am Strand im Urlaub gebaut. Es geht schnell!« »Von wegen schnell! Alle zehn Minuten lagen deine Steine wieder alle im Sand, ich weiß es noch, auf Teneriffa hast du dich zuletzt künstlerisch betätigt. Und es war nur eine kleine Pyramide! Guck dir das hier an, es sind ja richtige Kunstwerke! Es ist ja fast schon ein regelrechtes Mauerwerk.« Ich hockte mich vor einem der Türme, um meiner Frau mit dem Finger die Merkmale eines perfekten Mauerwerks zu verdeutlichen, musste aber sofort wieder erschrocken aufspringen. Kaum hatte ich mit meiner Hand die Steine berührt, hörte ich in der eingekehrten Stille ein verärgertes, zischendes Flüstern, das wie ein leises Fauchen eines in die Enge getriebenen Tieres wirkte und mich offenbar davon abhalten sollte. Es klang auf jeden Fall ziemlich bedrohlich wie das Warnrasseln einer Klapperschlange. Nein, Angelina war es nicht, es kam unter dem Turm.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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