|
Der Brockenwicht: Seite 10
»Hast du das gehört?«, erkundigte ich mich bei ihr, nachdem sich die erste Schockwelle gelegt hatte. »Was?«, erwiderte sie ahnungslos mit einer Gegenfrage. Es machte also keinen Sinn, noch etwas weiter zu erklären und Mutmaßungen zur Herkunft des Geräuschs anzustellen. Sie hatte nichts gehört und nichts gesehen. Mir wurde plötzlich unheimlich zumute. Das Gefühl verstärkte sich noch, als ich bemerkte, dass neben jedem Türmchen und an jeder Pyramide ein Erdloch existierte, das in irgendeinen unterirdischen Bau führte, denn aus ihnen kam dieses unzufriedene leise Murmeln, Zischen und Fauchen, welches ich nun aus allen Richtungen vernahm. Neben einigen Löchern lagen Nussschalen und angeknabberte Eicheln, als ob ein Eichhörnchen sie bei seiner Mahlzeit vom Baum hatte fallen lassen, und mitunter auch Holzspäne, als hätte sich einer kürzlich mit dem Hobel betätigt. Doch es gab über der Steinstadt keine Bäume und diejenigen, die die Nüsse geknackt hatten, mussten sich noch in den Löchern befinden. Was waren das für Tierchen? Marder? Ratten? Aber sie bauten keine Türme aus Steinen. Es musste jemand anders sein. Auf einmal nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr: Ein braungrauer Schatten, kaum größer als eine Ratte, huschte von einem Turm zum anderen. Ich sah genauer hin, aber im selben Augenblick verschwand er in einem der Löcher und, o Schreck, ich hörte wieder dieses leise bedrohliche »Zisch …sch …sch«. Ich sah mich um und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass nunmehr überall auf der Lichtung diese Schattenwesen hin und her zwischen den Pyramiden liefen, ich sie aber nicht mit meinen Augen fixieren konnte. Sie verschwanden, sobald ich versuchte, meinen Blick auf sie zu richten. Ich bekam mit einem Mal einen unüberwindbaren Wunsch, die Flucht zu ergreifen! Schnell steckte ich mein Telefon in die Hosentasche und ging los. Es interessierte mich aktuell auch nicht im Geringsten, was meine Frau bezüglich des schnellen Aufbruchs dachte. »Komm, wir müssen weiter!«, sagte ich ihr schon in der Bewegung über die Schulter und sah zu, dass ich möglichst zügig von diesem Ort wegkam. »Zisch …sch …sch«, jubelten die grauen Schattenwesen von allen Seiten! Sie lachten und freuten sich, dass ich unverrichteter Dinge davonzog und sie nicht mehr stören konnte. Ich sah mich kein einziges Mal um, bis der Pfad einen Knick gemacht hatte und die geheimnisvolle Stadt hinter der Biegung verschwunden war. Ich musste Angelina gar nicht fragen, ob sie irgendwas von den kleinen … wer auch immer sie waren, mitbekommen hatte. Natürlich nicht. Sie war für solche Erscheinungen nicht sonderlich empfänglich. Irgendwie war ich immer derjenige, der Fabelwesen und sonstige Geschöpfe der Fantasie anzog wie das Licht einen Nachtfalter und jemand, den unerklärliche Phänomene auf Schritt und Tritt verfolgten. Ich versuchte, mich nach der aufregenden Stadtbesichtigung zu beruhigen und meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Wo war eigentlich Heine? Er wäre in diesem Augenblick genau der Richtige gewesen, der für Ablenkung hätte sorgen können. Von ihm fehlte jede Spur. Er war mein Hirngespinst, hatte sich aber gleichwohl selbständig gemacht und geisterte irgendwo in der Gegend umher. Meine Gedanken drehten sich nach wie vor um die Türmchen, die Pyramiden und die lachenden Kobolde in den Erdlöchern. Ich konnte nicht mehr leugnen, dass hier irgendwas war, was mich um den Verstand bringen konnte, ohne jeden Zweifel.
(?)
Der Pfad drehte abermals nach rechts und wurde zusehends enger. Große Steine lagen im Weg und mächtige Wurzeln, die gut fünf Zentimeter aus dem Boden ragten, querten den Waldweg und machten das rhythmische Vorankommen beinahe unmöglich. Das Rauschen des Wassers war schon vor einigen Minuten lauter geworden und als Folge wunderte ich mich nicht, dass wir bald zu einem Wasserlauf hinauskamen, es konnte aber mitnichten die Ilse sein. Das Flüsschen führte deutlich weniger Wasser, das mir auch etwas heller erschien als die torfhaltigen Fluten, die die schöne Prinzessin talwärts trug. »Tiefenbach!«, verkündete ich laut den Namen des Rinnsals, nachdem wir angehalten und ich einen Blick auf die Wanderkarte geworfen hatte. Geli nahm die Information nickend zur Kenntnis und sah sich um. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass es ihr eher absolut einerlei war, wie der Name des Bachs lautete, prägte sie sich die Umgebung auf ihre Art ein. Die räumliche Wahrnehmung ihrer eigenen Position und die Bezeichnung der geographischen Realien waren für sie grundsätzlich unwichtig wie für die Mehrheit der Frauen. Ich hatte in meinem Leben kaum eine weibliche Person kennengelernt, die sich mit Himmelsrichtungen auskannte. Ihnen fehlte der Sinn dafür entweder gänzlich oder er war sehr schwach ausgeprägt. Den meisten Frauen fiel auch das Rückwärtseinparken mit dem Auto ziemlich schwer, was meines Erachtens eng miteinander verbunden war. Das alles störte sie aber keineswegs dabei, sich die Einzelheiten entlang des Weges so gut zu merken, dass sie sich auch ohne Himmelsrichtungen bestens zurechtfanden. Was meine Frau gerade machte, war dieses Einprägen der Gegend in ihrem Kopf, dachte ich zumindest. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass sie sich viel besser an Details von Dingen erinnern konnte, die wir irgendwo auf unseren Reisen gesehen hatten. Ich musste mir zuerst Fotos ansehen, um etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen, sie wusste aber alles sofort, ohne lange darüber nachzudenken. Da ergänzten wir uns gegenseitig und ich ließ sie einfach zufrieden – es hätte sich später als Vorteil erweisen können.
|
Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden
KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
Zahlen & Daten zum Werk
![]() Ihre Spende ist willkommen!Wir stellen Ihnen gerne alle Inhalte unserer Webseite kostenlos zur Verfügung. Sie können die Werke auch in der E-Book-Version jederzeit herunterladen und auf Ihren Geräten speichern. Gefallen Ihnen die Beiträge? Sie können sie alle auch weiterhin ohne Einschränkungen lesen, aber wir hätten auch nicht das Geringste dagegen, wenn Sie sich bei den Autoren und Autorinnen mit einer kleinen Zuwendung bedanken möchten. Rufen Sie ein Werk des Autors auf, an den Sie die Zuwendung senden wollen, damit Ihre Großzügigkeit ihm zugutekommt.Tragen Sie einfach den gewünschten Betrag ein und drücken Sie auf "jetzt spenden". Sie werden anschließend auf die Seite von PayPal weitergeleitet, wo Sie das Geld an uns senden können. Vielen herzlichen Dank! Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||



