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Der Brockenwicht: Seite 89

Wahrlich, ich fühlte mich irgendwie erleichtert, obgleich es keinerlei ersichtliche Gründe dafür gab. War es die Tatsache, dass ich mich mit meinen Geheimnissen und Sorgen Geli anvertraut hatte? Geteiltes Leid war bekanntlich nur ein halbes Leid. Ich wusste nicht, ob mein Schatz nun tatsächlich die Hälfte der schweren Wissenslast tragen musste, die ich zuvor allein geschultert hatte. Sie sah nämlich mitnichten nach einer Person aus, die unter irgendeinem untragbaren seelischen Druck jeden Moment zusammenbrechen würde. Im Gegenteil: Sie lief munter neben mir her, trotz ihrer Knieschmerzen, und nichts an ihr verriet äußerlich, dass mein Bericht über Hexen, Teufel und Zerbolte, die auf diesem Berg ihr Unwesen trieben, ihre geistigen oder körperlichen Fähigkeiten in einem besonderen Maße beeinträchtigte.

Ich versuchte, alles, was heute auf unserer Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg vorgefallen war, Revue passieren zu lassen, und das Erlebte irgendwie in mein bisheriges Weltbild einzubinden. Die neu gewonnene Erkenntnis, dass neben der normalen Wirklichkeit auch eine parallele Realität existierte, wo das Böse die Welt regierte, musste noch ihren Platz in meinem Kopf finden. Es gab Dinge, die sich der menschliche Verstand weigerte zu begreifen, ohne vorher lautstark an die Vernunft zu appellieren. Allein schon die Vorstellung, dass sich diese zwei unterschiedliche Welten räumlich und zeitlich überlappten, wie zwei Zahnräder unsichtbar ineinandergriffen und sich gegenseitig beeinflussen konnten, verursachte eine kognitive Dissonanz, denn das Bewusstsein war imstande, nur eine Realität zu verarbeiten. Vielleicht verhielt sich das Ganze genauso wie mit dem Sternenhimmel? Wenn jemand des Nachts in die Bodenlosigkeit des schwarzen Firmaments hineinschaute, während er sich des bezaubernden Anblicks funkelnder Perlen am Himmelsgewölbe erfreute und allerhand Gedanken von Ewigkeit und Unendlichkeit seinen Kopf füllten, kam es ihm vor, dass die Sterne, die er oben sah, ein Teil der realen Welt waren, in der er sich befand. Es war für alle mehr als offensichtlich: Hier war ich und hier waren die Sterne am Himmel, und beides existierte zur gleichen Zeit am gleichen Ort, war also real! Doch geriet derjenige ziemlich schnell in Verlegenheit, wenn er die logische Kette weiterdachte und zu einer ganz anderen Schlussfolgerung kam. Man stellte am Ende voller Erstaunen fest, dass es zwei verschiedene Wirklichkeiten sein mussten. Die Sterne am Himmel waren eine Sinnestäuschung, oder wenn man es so wollte, sie gehörten nicht zu der Realität, in der sich der Betrachter befand. Sie stellten nur ein Abbild der Wirklichkeit vor Jahrmillionen dar, so lange brauchte das Licht der silbrig weißen Punkte am Himmel, um unsere Wirklichkeit zu erreichen. Demnach sahen wir nur das Licht, das vor langer, langer Zeit die Sternoberfläche verlassen hatte und erst jetzt sichtbar wurde, und hatten nicht die geringste Ahnung, ob das Gestirn in der jetzigen Realität überhaupt noch existierte. Aber in diesen Kategorien konnte ein Mensch nicht denken, sein Verstand führte beide Erscheinungen zu einer Wirklichkeit zusammen, um ein einheitliches, für den Menschen verständliches Weltbild zu erschaffen, mit dem er leben konnte, ohne gleich sein Urteilsvermögen zu verlieren. So lag die Vermutung nahe, dass die Welt, wo Mephisto mit seinem Hexenheer weilte, auch eine Täuschung der Sinne war, eine Art Projektion einer früheren Realität in unsere eigene. Die entgegengesetzte Projektionsrichtung, bei der wir alle mitsamt unserer schönen Welt hübsch verpackt in den Tartaros flogen, schien ebenfalls möglich, bloß dass mir schon bei dem Gedanken graute, dass mein Körper in Einzelteilen durch Raum und Zeit nach irgendwohin projiziert wurde. Ich verdrängte einfach diesen Denkansatz.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Eigentlich gehörte die böse Wirklichkeit nicht hierher. Obwohl der menschliche Verstand es anders formulierte und Gut und Böse als zwei Gegensätze ein und derselben Welt sah, waren es zwei verschiedene Paar Schuhe. Das wurde einem ganz deutlich auf dem Brocken vor Augen geführt, wo man ungehindert aus einer Realität in die andere schlüpfen konnte. Diese Fähigkeit besaßen zwar nicht alle, aber es mussten ziemlich viele sein, denn aus irgendeinem Grunde häuften sich in dieser Gegend seit jeher geheimnisvolle Harzgeschichten und Legenden von Hexen und Teufeln. Ein Zufall konnte es kaum sein. Es blieb natürlich die Frage: Warum eigentlich genau hier? Darauf hätte vermutlich niemand eine Antwort geben können. Vielleicht gab es auf diesem Berg eine raumzeitliche Anomalie, die auf eine mysteriöse Weise zwei Realitäten voneinander trennte? Ich wusste es auch nicht. Außerdem hatte meine Theorie noch einen schwachen Punkt: Sie hörte sich zwar schlüssig an, taugte aber nichts gegen blutrünstige Zerbolte!

Wir kamen gut voran und blieben verschont von den unheimlichen Erscheinungen der dritten Art aus fremden Welten. Ich schätzte, dass wir schon ungefähr drei von den etwa vier Kilometern bis zum Brockenbett zurückgelegt haben mussten und hoffte inständig, die dunklen Kräfte hätten endlich von uns abgelassen, denn bereits fast seit einer Stunde wies nichts mehr auf ihre Gegenwart hin.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.852
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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