Logo Leseecke
OPEN DIGITAL LITERATURE PROJECT
Der Brockenwicht: Seite 87

»So ist es. Heißt aber nicht, dass die Hexen, von denen es hier wimmelt, auch harmlos sind. Über den Leuten, die dort am Bahngleis entlanggehen, vollführen sie gerade ihre Tänze in der Luft, glaub mir! Das ist der Goetheweg und gleichzeitig auch der Hexenstieg, wenn ich mich recht erinnere, und ob die Wanderer, wenn sie denn heute in Torfhaus ankommen, immer noch dieselben Menschen sind wie jetzt ist fraglich.«

Wir näherten uns dem Hexenstieg, der am Bahnübergang nach rechts abzweigte und zunächst entlang der Gleise der Schmalspurbahn nach Torfhaus führte. Johann Wolfgang sollte auf diesem Wege den Brocken bestiegen haben. Als sicher galt diese Annahme nicht, dennoch bezeichnete man den Wanderpfad auch als Neuer Goetheweg, ein Gedenkstein am Abzweig informierte wissbegierige Wanderer über diesem Umstand. Wie ein Fluss teilte sich an dieser Stelle der Ausflüglerstrom in zwei ungleiche Arme. Die meisten Brockenbesucher bogen rechts ab und nahmen den Hexenstieg, um nach Torfhaus zu kommen. Allem Anschein nach beabsichtigten die meisten, von dort mit dem Linienbus weiterzukommen. Vor ein paar Tagen, als wir abends mit dem Auto von Osterode nach Bad Harzburg unterwegs gewesen waren, hatte ich mich auch schon über die Menschenmenge gewundert, die sich auf der Bushaltestelle in Torfhaus versammelt hatte. Nun kannte ich auch den Grund für den plötzlichen Anstieg der Nachfrage nach Leistungen des öffentlichen Verkehrsnetzes. Es waren Brockenwanderer gewesen, die ihre Unterkünfte erreichen wollten, noch bevor es dunkel wurde. Der zweite Flussarm sah eher kümmerlich aus. Außer uns beiden gingen nur wenige über die Bahnschienen auf die andere Seite, wo sich die Brockenstraße nunmehr fast schnurgerade durch Felder und Wälder weiter nach unten zog. Sie war so gut wie menschenleer, wenn man von der kleinen Wandergruppe absah, die hundert Meter vor uns ebenfalls munter talwärts schritt. Es beunruhigte mich etwas. Verhandlungen mit einem Teufelsvertreter auf einer verlassenen Straße mitten im Wald zu führen, war nicht gerade das, was mich begeistern konnte.

»Tuuut, tutut, tutut, tuuut!«, erfüllte die Dampflok die Gegend mit ihrem Hornsignal, als sich der Zug mit dem nächsten Schwung Brockentouristen dem Bahnübergang hinter unserem Rücken näherte.

»Das ist vielleicht gar nicht so verkehrt«, sagte ich, als das schwarze, dichten Rauch in die Höhe speiende eiserne Ungeheuer in Dampfschwaden gehüllt über den Übergang zischte. »Wir können vielleicht etwas Vorsprung gewinnen, solange der Zug fährt. Der Typ ist noch auf der anderen Seite, er kann uns nicht sehen. Laufen wir! Jetzt!«

(?)
Leseecke Schließen
Lesezeichen setzen
 
Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
»Jetzt lesen

Wir preschten los und stoppten erst dann, als das Tuckern der Waggons auf den Schienen hinter uns aufhörte. Wir mussten mindestens zweihundert Meter Vorsprung gewonnen haben, schätzte ich unsere Leistung und sah zurück zur Kreuzung, um mir ein Bild zu machen. Die Straße war leer. Der Mann im Regenmantel war wie vom Erdboden verschluckt. Weder hinter dem Gleis noch davor war auch nur eine Spur von ihm festzustellen. Eigentlich hätte man sich freuen sollen, dass der unliebsame Begleiter endlich verschwunden war, aber etwas sagte mir, dass es eher kein gutes Zeichen war, der Horrortrip konnte hier nicht schon sein Ende haben.

Nichtsdestotrotz war es wesentlich angenehmer geworden zu wandern, ohne ständig den Atem des Verfolgers im Nacken zu spüren. Es ging nunmehr etwas ruhiger zu, obwohl wir das Tempo keineswegs verringert hatten. Die Ruhe kam eher von innen und gab einem die Möglichkeit, sich darüber Gedanken zu machen, was auf einen sonst noch alles zukommen konnte. Geli stellte keine Fragen mehr, nach der Laufübung hatte sie ihre Knieprobleme bekommen, die sie auch sonst immer beim Abstieg bekam. Sie hinkte leicht und konzentrierte sich darauf, das Tempo zu halten. Es funktionierte ganz gut, sodass wir schon bald den Abstand zu der Wandergruppe vor uns deutlich verkürzt hatten und ich bereits einige Sätze der Unterhaltung vernehmen konnte, als die Gruppe vor einem Wegweiser am Straßenrand stehen blieb.

»Bei mir steht jetzt, dass wir hier lang müssen«, sagte ein Mann, während er abwechselnd auf den Bildschirm seines Smartphones und auf den kaum erkennbaren Trampelpfad schaute, der in ein dichtes Gebüsch rechts von der Hauptstraße hineinführte. »Hier geht es nach Schierke. Das ist die Abkürzung.«

Warum wollten denn die Menschen ständig irgendeine Abkürzung finden? Es war zum Verzweifeln! Warum gingen sie denn nicht den normalen Weg, den schon andere vor ihnen gegangen waren? Nein, sie mussten immer ihre eigene Erfahrung machen, es lag in ihrer Natur. Jammerschade war nur, wenn sie nicht merkten, dass ihr eigener Weg gar nicht ihre eigene Wahl war, sondern ein highway to hell, eine Straße ins Verderben, auf die sie jemand heimtückisch geführt hatte. Und heute waren zwei junge Hexen, die über der Gruppe in einem Dunstschwaden herumalberten, in die Rolle von diesem jemand geschlüpft.

| Seite 87 von 130 |

Günstige Downloads für Ihr Gerät

Der Brockenwicht
PDF
Titel: Der Brockenwicht
PDF Dokument: Format A5, 298 Seiten, Dateigröße 4.178 KB, Ausgeführte Dowloads 0, PDF-Reader zum Lesen erforderlich! Auch zum Lesen im Ebook-Reader geeignet
5,99 € N/A
Der Brockenwicht
EPUB
Titel: Der Brockenwicht
E-Book im ePub-Format: Anzahl Seiten deviceabhängig, Dateigröße 650 KB, deviceübergreifend optimiert, Ausgeführte Dowloads 0, e-Book Reader zum Lesen erforderlich!
5,99 € »Epubli Verlag
Der Brockenwicht Titel: Der Brockenwicht
Jetzt eine Printausgabe bestellen! Sie werden gleich auf die Seite des Verlages weitergeleitet, wo Sie Ihr Exemplar bequem erwerben können.
14,99 € »Epubli Verlag

Diese Seite weiterempfehlen

»Link an Freunde senden
Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.850
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

Ihre Spende ist willkommen!

Wir stellen Ihnen gerne alle Inhalte unserer Webseite kostenlos zur Verfügung. Sie können die Werke auch in der E-Book-Version jederzeit herunterladen und auf Ihren Geräten speichern. Gefallen Ihnen die Beiträge? Sie können sie alle auch weiterhin ohne Einschränkungen lesen, aber wir hätten auch nicht das Geringste dagegen, wenn Sie sich bei den Autoren und Autorinnen mit einer kleinen Zuwendung bedanken möchten. Rufen Sie ein Werk des Autors auf, an den Sie die Zuwendung senden wollen, damit Ihre Großzügigkeit ihm zugutekommt.
Tragen Sie einfach den gewünschten Betrag ein und drücken Sie auf "jetzt spenden". Sie werden anschließend auf die Seite von PayPal weitergeleitet, wo Sie das Geld an uns senden können. Vielen herzlichen Dank!

Diese Seite weiterempfehlen

»Link an Freunde senden
Kreisende Punkte
Leseecke Schließen