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Der Brockenwicht: Seite 83
Keiner der Brockenbesucher merkte etwas, wie es schien. Seelenruhig pilgerten die Ausflügler auf der geteerten Brockenstraße vom Bahnhof zum höchsten Punkt des Berges und in entgegengesetzter Richtung spazierten ebenfalls Horden von Touristen zurück zum Bahnsteig. Manche genossen die Wärme der Sonnenstrahlen auf dem Platz vor dem Brockenhotel und einige nahmen Kurs auf das Brockenhaus. Der Brockenwirt, der die Pforten seines Lokals auf der Rückseite des Bahnhofs für die Besucher geöffnet hatte, machte vermutlich gute Umsätze, denn auch die Tische im Außenbereich waren teilweise besetzt trotz der nassgespritzten Sitzbänke. Aber keiner, wirklich keiner, machte den Eindruck eines Menschen, dem es bewusst war, dass er heute eine kostenlose Führung über das Plateau des Blocksbergs gewonnen hatte. Über jeder nur so kleinen Menschengruppe drehten sich zwei, drei nette Hexchen in ihrem Tanz und trieben Schabernack. Und was sah ich da? Jeder, der nicht vom Hexenescortservice betreut wurde, hatte einen Mann im langen Regenmantel und Lederhut als Begleiter bekommen – von der gleichen Sorte wie die zwei, die ich schon im Brockenhaus erlebt hatte! Sie steckten mit den Hexen unter einer Decke, so sah es aus. Es fiel auf, dass die Leute hin und wieder verwundert auf die Bildschirme ihrer Smartphones starrten, sich verloren umsahen und alsdann ihre Gehrichtung änderten. Zielstrebig liefen sie zum Rundweg, überquerten ihn und verschwanden alsdann zwischen den verkrüppelten Tannen am Rande des Plateaus. Ich wusste nur zu gut, wohin sie gingen und wie der ungeplante Abstecher in den Wald enden würde. Panisch blickte ich nach oben. Nein, über unseren Köpfen tanzten zum Glück keine Hexen! Noch nicht. Dafür bemerkte ich aber, wie ein »Regenmäntelchen«, das bisher vor dem Eingang ins Brockenhotel verweilte, uns anvisierte und sich in Bewegung setzte, in unsere mit Angelina Richtung. Fliehen! Es war das Einzige, was mir einfiel. »Pass auf«, sagte ich aufgeregt zu meiner Frau, »ich denke, wir sollten jetzt sofort aufbrechen. Die Bergspitze müssen wir nicht sehen. Es ist da wie eine Pilgerstätte. Guck, da ist es schwarz vor lauter Menschen, du kannst da nicht mal ein Foto machen!« »Aber …«, wollte sie gerade ihre Einwände vorbringen, als ich ihr ins Wort fiel. »Glaub mir, du willst dich jetzt auf den Weg nach unten machen!« Ich drehte mich um und eilte zurück zum Museum. Zum Brockenringweg kam man von dort am schnellsten und es war die Richtung, die man nehmen musste, wenn man dem Mann im Regenmantel ausweichen wollte. »Komm! Beeil dich!«, rief ich ihr noch zu, während ich am Heinegedenkstein vorbeilief, der nicht weit vom Eingang ins Brockenhaus aufgestellt war, und sah aus den Augenwinkeln, wie sie mir widerwillig folgte.
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Mit einem flüchtigen Blick registrierte ich, dass auf dem Stein dasselbe Heineprofil abgebildet war, das ich schon unten an den Ilsefällen gesehen hatte. Die Angaben zum Künstler fehlten auch hier, aber Nachforschungen zu diesem Thema anzustellen, war aktuell das Letzte, wozu ich einen Wunsch verspürte, – es gab wichtigere Dinge zu tun, und zwar heil von diesem Berg hinunterzukommen. »Brennt es irgendwo?«, fragte Geli unzufrieden, als sie mich auf dem Ringweg einholte. »Was ist los?« Ich schwieg und sah zu, dass wir so rasch wie möglich vorankamen. Es gab keine Zweifel mehr, der Mann im Westernhut verfolgte uns und ich versprach mir von der Begegnung mit dem Gesandten Mephistos nichts Gutes. Vielmehr vermutete ich, dass der Teufel seinen Tribut aus unserem Pakt durch ihn einfordern wollte, und ich wusste nicht, zu was ich mich dabei verpflichtet hatte. Wir waren allein auf dem noch zum Teil von Pfützen unterbrochenen sandigen Spazierweg, nur die Figur im grauen Regenmantel schritt uns zielstrebig hinterher in hundert Metern Entfernung und holte auf. Die Begegnung schien unausweichlich, wenn wir nicht dringend an Tempo zulegten, um die unliebsame Gestalt abzuschütteln. Ich wusste bloß nicht, wie ich es meiner Frau beibringen sollte. Sie würde gleich streiken, wenn ich ihr nicht den wahren Grund für meine Besorgnis erklärte. »Warum rennst du denn die ganze Zeit wie verrückt?«, ereiferte sie sich. »Lass mich mal wenigstens ein Foto von der Bergkuppe machen!« Geli überholte mich und blieb vor mir stehen. Es war vielleicht die Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu sagen und unsere aktuelle Lage darzulegen, möglicherweise würden meine Worte bei ihr auf Einsicht stoßen, denn ich hatte zumindest einen konkreten Anhaltspunkt, der für alle offensichtlich war, – den Mann im Regenmantel! Er war für alle wahrnehmbar, auch für sie. Man konnte seine Existenz nicht verleugnen wie alles andere, wovon ich zwar berichten konnte, mir aber keiner Glauben schenken würde, nicht einmal meine Frau.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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