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Der Brockenwicht: Seite 80
Wir standen eine Weile am Geländer, Geli machte Fotos und ich sinnierte über Heines Zitat aus der Harzreise, das ich vorhin auf der Infotafel unter strömendem Regen gelesen hatte, und musste Harry schließlich recht geben. »In hohem Grade wunderbar erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken …« Am Brockenbahnhof, der zweihundert Meter Luftlinie von uns entfernt lag, fuhr indessen zischend ein Zug der Schmalspurbahn ein und bald wurde es voll unten auf dem Platz vor dem Brockenhaus. Große Eile war geboten, um sich noch rechtzeitig im »Hexenflug«-Café des Museums einen Platz zu sichern, ehe ein neuer Schwung Gäste dort alle Tische besetzte! Wir löffelten appetitlich unsere Erbsensuppe, bissen genüsslich in die knackige Bockwurst und sprachen kein Wort – der Hunger war groß. Geli hatte noch zusätzlich ein Körbchen Brot zu der Suppe bestellt und mittlerweile lag darin die letzte Scheibe auf dem Boden. Erst nach dem ersten Schluck Kaffee lehnte sich meine Frau zurück und sah mich an. »Ich habe richtig Angst gehabt«, sagte sie. Ich richtete auf sie verwundert meinen Blick und erwiderte: »So schlimm war es doch gar nicht. Ein paar Antennen, ein paar blinkende Lämpchen …« »Nein, nicht das.« »Vor was dann?« Sie überlegte kurz, ob sie mir ihr Geheimnis anvertrauen sollte. »Dass wir jetzt hungrig den ganzen Weg zurückgehen müssen. Den steilen Abstieg hätte ich nie im Leben geschafft, so müde, wie ich war.« »Du meinst, als wir am Schild unter dem Vordach standen?« »Ja.«
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Das war ein Ding. Geli gab offen zu, sie war bei der Wanderung dermaßen kaputt gewesen, dass sie bald keinen Schritt mehr hätte machen können. Das hatte es noch nie gegeben. Ich unterließ auf der Stelle jegliche Versuche, sie deswegen aufzuziehen, obgleich mir die eine oder andere spitze Bemerkung schon auf der Zunge lag. »Was war denn?«, fragte ich stattdessen voller Anteilnahme. »Ich weiß nicht. Es war zu steil. Ich habe zuerst bis dreißig gezählt …« »Wie meinst du es?« »Ich blieb immer stehen und ruhte mich aus, wenn ich dreißig Betonplatten weit gegangen bin. Dann musste ich nach zwanzig Pause machen. Und zum Schluss, als du mich eingeholt hast, habe ich nur zehn am Stück geschafft. Es war zu steil.« »Willst du sagen«, versuchte ich zu scherzen, »du hast meine »Eins-Drei-Wandertechnik« übernommen?« Ich erinnerte mich an mein mühsames Vorankommen auf den steilen Hängen Madeiras, als ich versucht hatte, den Schrittrhythmus durch eine Taktvorgabe zu halten, indem ich stupide vor mich hin zählte: Eins – drei, eins – drei! »Nein«, scherzte meine Frau zurück, »es ist eine ganz neue Technik! Sie heißt »Dreißig-Platten-am-Stück-laufen!« »Und wieso um Himmels willen hast du Angst gehabt?« »Ich war erschöpft und hatte Hunger. Ich wollte dir grade sagen, dass wir uns irgendwo niederlassen sollen. Dann hat es angefangen zu regnen.« »Und?«, fragte ich ungeduldig. »Ich habe mir vorgestellt, dass wir die gekochten Eier und Sandwiches, die wir mitgenommen haben, niemals essen werden. Und wegen dem Regen gleich zurückgehen müssen, und vor Erschöpfung auf den glitschigen Platten ausrutschen und umkommen. So!« Angelina hatte wirklich eine blühende Fantasie. Ich hatte den Regen zwar auch mit den letzten Schimpfwörtern verflucht, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen … Halt! Wirklich nicht? Wenn ich es mir recht überlegte, hätte ich mich kleinlaut in die Ecke verkriechen sollen mit meinem Bemerkungen. Ich selbst sprach mit längst verschiedenen Schriftstellern, ich verhandelte mit Hexen, ich traf Leute, die ich kaum gekannt und Jahrzehnte nicht gesehen hatte, zu allem Überfluss hatte ich noch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen! Richtig, davon hatte ich ja schon fast ganz vergessen! Auf jeden Fall stand es mir nicht zu, meiner Frau irgendwelche Predigten zu halten über die Unsinnigkeit ihrer Vorstellungen.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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