Die Röte am Himmel nahm kaum merklich, dennoch immer mehr zu, je höher ich stieg. Nein, ich konnte keineswegs etwas richtig ohne das Handylicht sehen, aber es war nicht mehr vollkommen dunkel, ein paar graue Töne hatten sich unter die Schwärze der Nacht gemischt. Vor dem Hintergrund des helleren Himmels über dem Berg wurden sogar Konturen der einzelnen Tannenbäume auf der Kuppe sichtbar, die vorhin mit der dunklen Umgebung verschmolzen gewesen waren. Und dazwischen erblickte ich etwas, was von Menschenhand stammte. Ich glaubte, es waren die Umrisse der Infotafel am nächsten und letzten Rastplatz des Heinrich-Heine-Wegs. Der Kleine Brocken lag vor mir! Plötzlich löste sich von der Tafel ein Schatten – der Schatten einer menschlichen Figur. Es war meine Frau! Es war Geli, verdammt noch mal, jubelte meine Seele! Sie ging einige Schritte zur Seite und verweilte eine Zeit lang bewegungslos in einer Position. Sie machte Fotos mit Ihrem Telefon, da war ich mir sicher! Man konnte nicht erkennen, was ihr als Fotomotiv diente, aber ich hatte das Gefühl, dass das Objektiv auf mich gerichtet war. Ich kämpfte aus letzter Kraft, um den Rest des Weges bis zum Zwischengipfel in einem Zug zu bewältigen, hatte mich jedoch allem Anschein nach gewaltig überschätzt und scheiterte kläglich. Ich hatte nicht einmal genug Kraft übrig, um ihr etwas zuzurufen. Keuchend senkte ich den Kopf und kämpfte gestützt auf meine Wanderstöcke gegen die Bewusstlosigkeit an. Es dauerte lange. Sehr lange. Ich hob wieder den Kopf, als der Schwächeanfall vorbei war, doch der Schatten war inzwischen verschwunden. Trotzdem, die Gewissheit, dass Angelina nicht weit war, stimmte mich ziemlich optimistisch, um nicht zu sagen, ich freute mich richtig, sie schon fast eingeholt zu haben. Wie ich es geschafft haben konnte bei der Tatsache, dass ich mehrmals für längere Zeit aufgehalten worden war, interessierte mich wenig.
Endlich kam ich zum Rastplatz am Kleinen Brocken und sah mich um. Ja, das, was ich vorhin gesehen hatte, war die Infotafel. Sie enthielt das nächste Zitat aus der Harzreise: »… es ist ein äußerst erschöpfender Weg und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.« Wie treffend, Harry, bis auf die Tatsache, dass ich kein Brockenhaus sah! Aber ich ging davon aus, dass man von hier bei Tageslicht weit sehen konnte, denn bis zum Brockengipfel verdeckte nichts meine Sicht. Ich nahm vorne zwar nur schemenhafte Umrisse eines Hügels wahr, aber die Warnleuchten des Sendemastes verrieten, dass ich die Spitze des Blocksbergs vor mir hatte. Sie waren jedoch nicht die einzige Lichtquelle auf dem abgeflachten Rücken zwischen dem Kleinen und dem Großen Gipfel des sagenumwobenen Berges. Überall brannten Lagerfeuer und tauchten die Gegend in ein geheimnisvolles, diffuses rötliches Licht. Sie konnten die Erklärung für die Röte hinter dem Berg sein, die ich von unten gesehen hatte. Es roch nach Rauch. Die Feuerstellen waren viel zu weit entfernt, um erkennen zu können, was an jeder einzelnen von ihnen vor sich ging, aber die Vermutung, dass ich Zeuge des berüchtigten Hexensabbats auf dem Blocksberg war, drängte sich auf. Schon zogen vor meinen Augen Bilder vorbei, die einen Hexensabbat darstellten, und zwar so, wie die Szene auf Gemälden alter Meister festgehalten worden war. Erstaunlicherweise waren sie sich fast alle in einer Frage einig gewesen: Hexensabbat war eine Zusammenkunft von merkwürdig aussehenden Frauen, bei der eine Oberhexe mit ihrem Besen im Kessel über dem Feuer rührte und der Rest nackt durch die Gegend flanierte, im flackernden Schein der Flammen anzüglich tanzte und sich mit ziegenartigen, gehörnten Geschöpfen männlichen Geschlechts in allen Ecken vergnügte. Mit Entsetzen dachte ich daran, was passieren würde, wenn ich gleich versuchte, diesen riesigen Hexentanzplatz zu überqueren. Innerlich bereitete ich mich auf das Schlimmste vor: Eine Schar von nackten Frauen würde auftauchen und ihren abartigen Hexengeruch von Fäulnis in der Luft verbreiten. Sie würden ihre Späße mit mir treiben und am Ende an den Armen und Beinen packen, zum Lagerfeuer bringen und mich von der Oberhexe bei lebendigem Leibe im Kessel kochen lassen. Die Zerbolte kamen in meiner Vision noch gar nicht vor, sie gab es ja auch noch! Vielleicht würde ich ihnen anschließend unter einer pikanten Champignonsoße zum Fraß serviert werden? Doch es kam ganz anders.
Titel: Der Brockenwicht
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Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
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