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Der Brockenwicht: Seite 6

Ich hatte bis zum heutigen Tag keine Ahnung gehabt, welche Heldentaten ein gewisser Herr Zanthier in seinem Leben vollbracht hatte, dass nach ihm die Lichtung im Wald benannt worden war, auf die wir nach kurzer Zeit hinausliefen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es einen solchen Menschen gegeben hatte, und es hätte sich vermutlich auch nichts daran geändert, wenn nicht eine hölzerne Tafel am Eingang und ein Gedenkstein unter der alten Eiche, wo auch ein Picknicktisch genug Platz fand, meine Wissenslücke geschlossen hätten. Hans Dietrich von Zanthier war Oberforst- und Jägermeister aus Ilsenburg, der dort seinerzeit eine »Forstliche Lehranstalt« gegründet hatte, bevor er siebzehnhundertachtundsiebzig das Zeitliche segnete. Zugegeben, der Gedenkstein hatte etwas von einem Grabstein an sich, vielleicht lagen ja auch noch tatsächlich die Gebeine des Herrn von Zanthier unter der Eiche, ich wusste es nicht. Außer dem Tisch und dem Stein gab es noch eine Schutzhütte, die etwas abseits stand, mit einem spitzen Dach, das aus ungehobelten, sich überlappenden Brettern bestand und bis zum Boden reichte. Im Inneren der türenlosen Hütte, bei der einfach die Frontwand fehlte, sah man an den Seiten zwei breite Bänke, die eher an Pritschen erinnerten und vermutlich auch als solche gedacht waren, denn darauf schliefen in aller Ruhe zwei Unbekannte eingewickelt in ihre Schlafsäcke! Das war eine Überraschung, damit hatte ich nicht gerechnet, hier vor den Toren der Stadt Ilsenburg zwei erschöpfte Wanderer in einer Schutzhütte vorzufinden, die gestern bei Nacht und Nebel aus den Bergen gekommen waren und keine Kraft mehr gehabt hatten, bis zu ihrem Auto in der Stadt zu gehen. Andererseits war ich vielleicht zu romantisch gestimmt und alles hatte eine viel einfachere Erklärung, zum Beispiel die, dass zwei Obdachlose vom städtischen Bahnhof verjagt worden waren und hier Schutz vor der Kälte der Nacht gefunden hatten. Ja, warum nicht? Die Hütte war nicht allzu weit von der Stadt entfernt und so gut wie ohne Höhenunterschied zu erreichen. Ich wollte es nicht herausfinden und wir ließen die Leute ihre süßen Träume in Morpheus' Armen weiterträumen.

Bis hierhin waren wir tatsächlich über einen Weg gewandert, der in keiner Weise vermuten ließ, dass wir heute noch mehr als achthundert Höhenmeter zu bewältigen hatten. Erst nachdem wir den Zanthierplatz hinter uns gelassen hatten, spürte ich mit meinen Beinen, dass ab jetzt der Weg langsam ein Gefälle bekam. Man konnte den sanften Anstieg kaum mit den Augen wahrnehmen, aber die Beine logen nie und außerdem verwandelte sich die Ilse nach und nach in einen reißenden Strom, der bergab zwischen den großen Granitblöcken in seinem Flussbett schoss und zischend in alle Seiten spritzte, wenn sich dem Wasser ein Stein in den Weg legte. Die Ilse war so laut geworden, dass ich Geli kaum verstehen konnte, wenn sie zu mir etwas aus fünf Metern Entfernung sagte. Die Sonne kam aus dem Schatten des Ilsesteins heraus, berührte den Wald und tauchte alles in ihr zauberhaftes gelbes Licht, die goldenen Reflexionen tanzten wie Irrlichter auf den dicken Baumstämmen entlang des Wasserlaufs. Das Tagesgestirn kitzelte mit seinen warmen Strahlen unsere Gesichter und ließ die letzten Tropfen von den Blättern der Buchen verdunsten. Der Wald hatte sich gelichtet, doch die ersten Tannen mischten sich schon unter die mächtigen Laubbäume und kündigten den baldigen Vegetationswechsel an.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Wir schritten eines breiten, bequemen Trampelweges, der dem wilden Bach folgte. Die Schotterstraße war am Zanthierplatz nach links ausgewichen und hatte sich erst einmal aus unserem Sichtfeld verloren. Wir waren nach wie vor absolut allein auf dem Pfad und hatten bis jetzt keinen einzigen Menschen getroffen, die in der Schutzhütte schlafenden Kollegen nicht mitgerechnet. Das fand ich gut, man konnte sich auf das Wandern konzentrieren, ohne permanent jemandem auf dem Pfad auszuweichen oder einen konditionsstarken Wanderer überholen zu lassen, einen Rhythmus entwickeln, um das Tempo zu halten, – schließlich mussten wir heute noch viele Kilometer zurücklegen und wir waren noch nicht annähernd in den Höhenlagen. Wanderroutine kehrte ein, wir bildeten eine Kolonne, die bald von mir, bald von Geli angeführt wurde. Nur selten hielten wir an, wenn wir auf dem Weg etwas wirklich Außergewöhnliches sahen, und sprachen kaum miteinander, sodass ich genug Zeit hatte, um über Gott und die Welt zu sinnieren, aber mitunter auch ein paar Überlegungen über weniger philosophische, dennoch nicht weniger wichtige, obgleich auch sehr irdische Dinge anzustellen.

»Hier bist du also entlanggegangen, Harry?«, sprach ich in meinen Gedanken zu Heine, der gerade neben mir als unsichtbare Erscheinung schritt. »Kannst du mich überhaupt hören?«

Er schwieg und sah sich mit unverkennbarer Begeisterung das »muntere Mädchen« Ilse an, das »lachend und blühend den Berg hinablief«. Ich seufzte und setzte meinen Gedankengang fort: »Du musst ja damals noch Harry geheißen haben, nicht wahr? Ich werde dich so anreden. Einverstanden? Und wir werden auch per Du sein, wenn es dir genehm ist. Finde ich angebracht, denn du bist ja auf deiner Harzreise gerade mal siebenundzwanzig und ich … ich bin vor ein paar Tagen neunundfünfzig geworden. Merkst du den Unterschied? Dennoch sind wir beide heute hier, mit ein und demselben Ziel, dem Blocksberg, und du redest mich bitte ebenfalls mit Du an, wenn du überhaupt noch redest. Du bist ja gerade so schweigsam! Also wie war es denn nochmal mit deinem Vornamen, warum hast du ihn überhaupt … Ach so, Entschuldigung … Du weißt ja noch gar nicht, dass du in einem Jahr ganz anders heißen wirst. Heinrich … Harry würde mir besser gefallen! Und vor allem, wieso eigentlich das Ganze: die lutherische Taufe, die Vornamensänderung? … vermeintliche Vorteile für die berufliche Laufbahn? Das hast du dir davon versprochen? Verstehe! Und? Hat es etwas geholfen? Bist du danach nie wieder als Jude verschrien worden? … verstehe! … aber das wirst du erst alles erfahren, schon sehr bald. Ja, Harry, so ist das Leben. Es war zu deiner Zeit so und bis heute hat sich nicht wesentlich viel verändert. Was muss man denn nicht alles über sich ergehen lassen, wenn man von Idioten umgeben ist, die ohne Zweifel den größten Teil der Menschheit ausmachen, und sein Leben lang als Geisel der Umstände gefangen gehalten wird und sich an die von denselben gehirnlosen Dummköpfen – du weißt schon, Philister aus Göttingen – aufgestellten gesellschaftlichen Normen und Regeln zu halten gezwungen ist? Widerlich! Man verliert seinen Vornamen, man begeht einen Verrat an seinen Werten und man versteckt die Gefühle tief in seinem Inneren, nur um den Anforderungen des Pöbels gerecht zu werden und irgendwie über die Runden zu kommen. Aber heute … heute willst du ›auf die Berge steigen‹ und ›lachend auf sie niederschauen‹! Das habe ich nun auch vor! Zugegeben, schon etwas spät in meinem Leben. Dennoch: Lieber spät als nie.«

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.819
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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