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Der Brockenwicht: Seite 7
Angelina blieb auf einmal an einer Biegung der Ilse auf dem Pfad stehen. Es sei eine gute Stelle, um ein paar schöne Bilder zu machen, teilte sie mir ihre Absichten mit, als ich sie eingeholt hatte. In der Tat, ich sah es auch so. Man stand auf dem Weg, aber es kam einem vor, dass der Strom direkt auf einen zufloss und man gleich nasse Füße bekommen würde. Der Fluss brachte sein Wasser ruhig und gemächlich bis zum Ilseknick, ehe sich zwischen den felsigen Ufern eine Stromschnelle bildete, die es wild verwirbelte und mit viel Getöse gegen große scharfkantige Steine schleuderte, sodass die braunen Schaumkronen auf der Oberfläche noch lange flussabwärts trieben. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. »Mach mal ein Foto von mir!«, rief ich meiner Frau laut zu, die gerade ihre Bilderserie mit den aufgewühlten Fluten beendet hatte, und positionierte mich vor einem Bächlein, das an dieser Stelle den steilen Hang zu unserer Rechten munter zwischen den üppig grünen Adlerfarnen herunterplätscherte, um sich mit der Ilse zu vereinen. Sie machte das Bild. »Und jetzt du von mir«, sagte sie und gab mir ihr Telefon. »Ich kann es auch mit meinem machen!«, bemerkte ich verwundert. »Nein, du sollst es mit meinem machen!«, beharrte Geli hartnäckig. »Ich will es an jemanden senden. Und außerdem kann ich das Bild bei mir löschen, wenn es schlecht wird. Du weigerst dich ja, die Fotos von mir zu löschen, wo ich wie 'ne alte Hex' aussehe. So nennst du mich doch, wenn du mich heimlich fotografierst!« »Nee, nee! Die alten Hexen, die bleiben alle da, wo sie sind! Okay, gib her!« Ich nahm das Telefon und knipste ein Foto, wo Angelina mit einem breiten Lächeln im Gesicht vor dem Hintergrund der schäumenden Kaskaden stand und sich mit den Händen auf einen Wanderstock abstützte. Ob ich dabei irgendwas falsch gemacht oder ihre Kamera im Smartphone irgendwelche seltsamen Einstellungen hatte, vermochte ich nicht zu sagen, aber auf dem Foto hatte sie mit ihrer Schlaghose, dicken Wanderschuhen, Rucksack und Wanderstock etwas von einem Waldzwerg, zumal der Kopf etwas überdimensional geraten war und die Beine entsprechend zu kurz. Die moderne Fototechnik war manchmal ein Buch mit sieben Siegeln. »Du siehst aus wie der Wicht auf dem Pfosten!«, scherzte ich. »Zeig.« Geli nahm das Telefon an sich, sah auf das Bild und lachte von ganzem Herzen, laut und ansteckend. »So, hier ist noch eine Hexe, und zwar eine mit geöffnetem Mund«, sagte ich, als ihr Lachanfall vorbei war, und zeigte das Bild, das ich mit meinem Telefon gemacht hatte. »Du sollst es auf der Stelle löschen!« »Nö, im Leben nicht«, entgegnete ich gelassen. »Ich behalte es lieber. Wir sollten jetzt aber weitergehen, es ist schon nach neun Uhr. Komm, meine alte Hex', gehen wir ein bisschen!« Angelina ging los, während ich noch die Schlaufe des Wanderstocks um das Handgelenk wickelte. Sie hatte schon zehn Meter Vorsprung, als ich unerwartet etwas hörte, was nicht zu dieser Umgebung passte.
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»Hihihi …« Ich hatte es eindeutig gehört. Trotz des Wassers der Ilse, das gegen die Steine donnerte. Es konnte mich keiner mehr vom Gegenteil überzeugen. Es war wieder das halb gutmütige, halb böse kichernde Lachen, das ich schon vorhin gehört hatte. Ich suchte mit meinem Blick den Hang bis nach oben ab, von wo es gekommen war. Keiner war da. Der ungeklärte Fall entwickelte sich langsam zu einem Problem, hatte ich das Gefühl. Begegnungen der dritten Art wollte ich auf meiner Harzreise keine haben. Davon hatte ich schon beim letzten Wanderurlaub genug gehabt. Warum musste ich denn immer in Gegenden reisen, wo etwas Mysteriöses geschah? Ich konnte diese Frage nicht beantworten und etwas anderes, als meiner Frau auf dem Pfad zu folgen, blieb mir im Moment nicht übrig. Die Ilse machte an dieser Stelle einen Bogen um eine Anhöhe, doch der Trampelpfad, dessen Gefälle kräftig zugenommen hatte, führte unbeirrbar geradeaus über den felsigen Untergrund des lichtdurchfluteten Waldes. Sie war aber nie wirklich weit weg, ihr fröhliches Rauschen klang ununterbrochen durch den sonnigen, von Vogelgesängen erfüllten Hain und begleitete uns auf dem Weg nach oben. Der Pfad war noch feucht und stellenweise matschig. Obwohl das Wasser des gestrigen Regens schon längst abgeflossen war, erinnerten die Spuren der strömenden Fluten auf dem Weg an das heftige Gewitter, das am späten Nachmittag einen Dauerregen mit sich gebracht hatte, der bis in die Nacht nicht hatte aufhören wollen. Ich hatte sogar schon gewisse Zweifel bekommen, dass der geplante Brockenaufstieg stattfinden würde. Doch heute erfreute der wolkenlose, tiefblaue Himmel wie auf Bestellung das Auge und die strahlende Sonne leuchtete die tiefsten und dunkelsten Ecken des zauberhaften Ilsetals aus. Es war in diesem Sommer eher die Ausnahme. Seit einer Woche, die wir schon im Harz verbracht hatten, fing es jeden Tag gegen Abend an zu regnen und hörte erst am nächsten Vormittag auf. Wenn wir nach unseren Tagesausflügen am späten Nachmittag unsere Unterkunft betraten, trübten schon die ersten Regentropfen die Fensterscheiben unserer Ferienwohnung im Dachgeschoss. Es war wirklich ein regnerisches Jahr. Nichtsdestotrotz hatten wir äußerst produktiv die regenfreien Zeitfenster genutzt, um unser Wanderprogramm zu absolvieren. Alle Ziele, die wir bis dahin ins Auge gefasst hatten, waren erreicht, obwohl auch mit manch einer Unterbrechung an Tagen, an denen es durchgehend geregnet hatte. Mir gefiel es sogar viel mehr, den Harz feucht und grün zu erleben, als staubtrockene Pfade mitten in der ausgedörrten Vegetation zu bewandern, wie es vermutlich in den letzten drei Jahren der Dürre der Fall gewesen wäre.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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