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Der Brockenwicht: Seite 57

Inzwischen waren wir mit Geli am Neustädter Brückenkopf angekommen, aber ich sah nicht das Tanzlokal, an das ich mich noch so lebhaft erinnerte. Stattdessen gab es an der Stelle, wo das Publikum früher in einer scheunenartigen Baracke das Tanzbein geschwungen hatte, eine kleine Parkanlage, in deren Mitte allerdings irgendwelche Buden standen und der Schriftzug »Biergarten am Narrenhäusl« zu sehen war. Es war eine unangenehme Überraschung, ich konnte Angelina das Ganze nicht mehr zeigen!

»Das Tanzlokal stand hier«, sagte ich.

»Ach«, bemerkte sie spöttisch, »wie schade, dass ich es nicht mehr besichtigen kann – das Lokal, wo ihr Weiber aufgerissen habt.«

»Nee … da war nichts mehr mit Weibern. Der Abend war gelaufen. Die armen Burschen sind alle sehr einsam ins Bett gegangen, sogar ohne ein Bier zum Abschluss des Tages zu trinken!«

Wir fanden alsdann im Kellergeschoss der Neustädter Markthalle eine Gelegenheit zu Mittag zu essen und kehrten eine Stunde später zur Augustusbrücke zurück, um im Biergarten noch ein naturtrübes Dresdner Narrenhäusler zu probieren.

»Wie viel Zeit haben wir noch?«, wollte Geli wissen, als wir bequem am Tisch an einem schattigen Plätzchen im Freien saßen, das Bier tranken und uns die Skyline der Dresdner Altstadt am anderen Elbufer ansahen. Der große Biergarten war ziemlich leer. Außer uns gab es vielleicht noch drei oder vier Gäste.

»Alle Zeit der Welt«, scherzte ich müde und schläfrig vom deftigen Essen.

»Hör auf mit deinen Witzen, ich meine es ernst«, versetzte sie.

»Puh«, gab ich von mir und sah auf die Uhr. »Noch gute zwei Stunden. Warum?«

»Ich dachte, wir können ja noch mit der Straßenbahn eine Runde durch die Stadt fahren.«

»Was willst du? Du hast ja schon eine volle Runde in der und um die Altstadt gemacht. Was willst du denn noch mehr?«

»Na ja, das war ja nur die Altstadt, aber aus der Straßenbahn sieht man die Stadt so, wie sie heute wirklich ist.«

Irgendwas hatte diese Idee an sich. Ich stimmte zu, zumal sich die Haltestelle zum Glück gleich um die Ecke befand, und wir sprangen auf die erstbeste Straßenbahn auf. Die knallgelben Gelenkwagen der Linie Nummer neun ließen flott das Stadtzentrum hinter sich und bewegten sich zu den südlichen Stadtteilen der sächsischen Metropole. Es war letztendlich nicht von Belang, wohin wir fuhren, denn das Ziel der Reise war einzig und allein, aus dem Fenster zu gucken.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Und die Stadt ließ sich sehen! Breit angelegte Straßen, gesäumt von frischgepflasterten Bürgersteigen, waren durchflutet von Licht. Der Belag wies keinen einzigen Riss auf und ging barrierefrei in die Zufahrten zu den modernen Bürogebäudekomplexen über, deren gläserne Fassaden die Sonne spiegelten. Sogar die unsäglichen Plattenbauten aus der Zeit der Stasidiktatur erstrahlten in allen Regenbogenfarben auf der rechten Seite, als wir auf der Tiergartenstraße am Dresdner Zoo vorbei auf den Schienen entlangtuckerten, denn die Wohnsilos hatten inzwischen alle einen neuen, bunten Anstrich bekommen und sahen lustig und einladend aus. Das Bild, das ich sah, stand in einem krassen Gegensatz dazu, was ich bei meinem ersten Besuch nach dem Mauerfall in Dresden erlebt hatte: Schlaglöcher auf den Straßen und heruntergekommene Häuser. Ich wusste nicht, ob es damals an dem schmuddeligen Dezemberwetter gelegen hatte, aber ich hatte einen bleibenden Eindruck gewonnen, mich in einer trostlosen Gegend befunden zu haben, voller Tristesse und Schwermut. Ich war vielleicht eher geneigt anzunehmen, dass es an dem allgegenwärtigen grauen Farbton gelegen hatte, in dem sich die Häuser präsentiert hatten. Nein, grau war wahrscheinlich nicht das richtige Wort, der Ton war mehr braungrau mit einem grünlichen Stich gewesen. Auch in der Umgebung, auf dem Land, hatte es nicht viel anders ausgesehen. Man hätte aus der Ferne ein Dorf zwischen den Hainen nicht direkt ausmachen können, denn die Häuschen waren alle mit den kahlen Bäumen gleichfarbig gewesen, und nicht nur in Sachsen!

Das Schicksal hatte mich eines Tages zum Grenzübergangspunkt an der Autobahn in Frankfurt an der Oder verschlagen und ich hatte die Strecke von dort in die Stadt zu Fuß zurücklegen müssen, bei Frost und Schnee durch Felder und Wälder. Wie überrascht war ich doch gewesen, als ich schon im ersten Vorort genau die gleichen Häuser entdeckt hatte, in genau demselben Farbton!

Was der genaue Grund für die überaus häufige Verwendung der Grautöne gewesen war, entzog sich meiner Kenntnis, aber dass es auch anders ging, bewiesen die gutbürgerlichen zweistöckigen Häuser, die ich bewunderte, als die Straßenbahn uns in ein ruhiges Viertel gebracht hatte, das vermutlich von den Bebauungsplänen der sozialistischen Parteifunktionäre verschont geblieben war. Nur hier und da sah man noch das triste eintönige Grau, der große Rest ertrank in der Farbenvielfalt, die den individuellen Charakter jedes einzelnen Bauwerks zusätzlich unterstrich.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.844
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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