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Der Brockenwicht: Seite 55

Mittlerweile konnte ich es mir kaum vorstellen, wie ich meinen Tag verleben sollte, ohne morgens das Nass-und-kalt-Gejammer unseres Nachbarn gehört zu haben! Dabei hatte ich ihn bis jetzt noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen, ich kannte nur seine Stimme. Erst am Ende unserer Urlaubswoche zeigte mir Angelina das Paar im Restaurant. Sie deutete mit den Augen auf den Mann an einem der benachbarten Tische, lächelte verschwörerisch und sagte zu mir halblaut: »Es ist nass und kalt …«

 

Der Ausdruck hatte nicht nur den Kurzurlaub überdauert, er war zu einem festen Bestandteil unseres alltäglichen Sprachgebrauchs in den nachfolgenden Jahren geworden. Wenn es darum ging, einander scherzhaft zu necken oder sich über das Schmuddelwetter zu beschweren, wurde er noch heute oft benutzt. Nun saß plötzlich der Urheber persönlich zu meiner Linken an einem Ort, an dem ich ihn nicht in meinen wildesten Träumen anzutreffen erwartet hätte, und bei Umständen, die schon den Fakt dieser Begegnung selbst infrage stellten. Nein, darin, dass er es war, bestand definitiv kein Zweifel, die Gesichtserkennungssoftware in meinem Kopf funktionierte in aller Regel einwandfrei, was bei mir aber Bedenken hervorrief, war eben die Tatsache, dass ich ihn auf Anhieb identifizieren konnte. Das Gesicht, das irgendwo in meinem Gedächtnis abgespeichert war, hatte ich schon vor beinahe zwanzig Jahren gesehen, aber es stimmte mit dem Gesicht des Mannes am Lagerfeuer zu hundert Prozent überein. Dass sich das Aussehen des griesgrämigen Urlaubers in all den Jahren kein bisschen verändert hatte, hätte ich beim besten Willen keinem glauben können.

Zwanzig Jahre waren ein verdammt langer Zeitabschnitt, in dem Kinder heranwuchsen und ihre eigenen Kinder bekamen, Erwachsene zu Greisen wurden und die ältere Generation das Zeitliche segnete. Die Spuren der Zeit ließen sich nicht beseitigen oder einfach wegwischen wie ein Schmutzfleck aus dem Gesicht. Ich war vor etwa zehn Jahren ziemlich überrascht gewesen, als mir jemand ein Foto von einer Gruppe wildfremder Menschen zeigte und allen Ernstes behauptete, es würde sich dabei um unsere ehemaligen Klassenkameraden handeln. Es waren zu dem Zeitpunkt fast bis auf den Tag genau nur zwanzig Jahre vergangen, seitdem wir uns alle im Alter von etwa dreißig Jahren zuletzt gesehen hatten, aber ich erkannte keinen. Nur vage Vermutungen schwirrten in meinem Kopf, wenn ich in dem einen oder anderen Gesicht ein paar Züge entdeckte, die mich an jemanden von damals erinnerten, mehr nicht. Ich wäre auf der Straße an den Leuten vorbeigelaufen, ohne auch nur den leisesten Verdacht zu haben, dass es jemand war, mit dem wir viele Jahre, auch über die Schulzeit hinaus, befreundet gewesen waren und schon mal das eine oder andere Bier über den Durst getrunken hatten, in guten wie in schlechten Zeiten.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Demnach wäre der Mann am Lagerfeuer eher im Bereich der Halluzinationen einzuordnen gewesen, aber er war da, ich hätte ihn berühren können, ich hatte mit ihm gesprochen! Man konnte ihn nicht verleugnen. Und er war jemand von heute und nicht von gestern, denn er kannte sich mit Dingen aus, die damals noch gar nicht erfunden worden waren.

Unterdessen hatte der milchige Nebel den Rastplatz ordentlich eingehüllt, nicht einmal die Schutzhütte war deutlich zu sehen im flackernden Licht des Lagerfeuers. Die aufwallenden Nebelschwaden über unseren Köpfen bildeten ununterbrochen bizarre Formen, die schon im nächsten Augenblick zerfielen, um Platz für neue, noch absonderlichere Chimären zu schaffen, die nur einer kranken Fantasie entsprungen sein konnten.

»Er wird immer dichter«, jammerte die junge Frau. »Markus, kannst du noch a bissl Hulz nachlegen? Das Feuer geht langsam aus.«

»Ja, tatsächlich. Sollten wir mal machen. Könnten Sie mir mal ein paar Äste geben?«, wandte er sich an den Profiwanderer.

»Ich mach das schon«, sagte dieser und machte sich an dem Haufen Brennholz hinter seinem Rücken zu schaffen. »In der Tat, es wird hier langsam ungemütlich.«

Die Funken sprühten in die Höhe, als er einige frische Scheite auf die glühenden Kohlen auflegte, aber das feuchte Holz wollte vorerst kein Feuer fangen, sodass es wider Erwarten noch dunkler und kühler wurde.

»Sollen wir vielleicht weiterziehn?«, fragte die Frau verzweifelt ihren Begleiter. »Irgendwelche Flüchtlinge wie bei uns zu Hause werden uns hier wohl nicht überfallen. Der Mann«, sie zeigte auf mich, »ist ja grade von unten gekommen. Vorhin habe ich dort auch einen hellen Streifen am Himmel gesehen. Vielleicht wird es ja heller, je weiter man nach unten kommt.«

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.844
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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