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Der Brockenwicht: Seite 56

Ich wurde hellhörig. Die Geschichte von Flüchtlingen und Ausländern, die nachts durch die Straßen zogen und nichts anderes im Sinn hatten, als gesetzestreue Bürger zu überfallen, kam mir bekannt vor. Ich hatte sie erst vor einigen Jahren gehört, und zwar in einer Dresdner Straßenbahn von einer jungen Krankenschwester, die eine zum Verwechseln ähnliche Stimme mit der Frau am Lagerfeuer hatte.

 

Es musste Spätfrühling oder Anfang des Sommers zweitausendsiebzehn gewesen sein, als wir mit Angelina beschlossen hatten, die Hauptstadt des Freistaates Sachsen zu besuchen – die ehemalige Residenz der sächsischen Kurfürsten, einen der bedeutendsten Dreh- und Angelpunkte der europäischen Kultur, die Stadt der sagenhaft schönen barocken Architektur, aber leider auch die Heimat der berühmt-berüchtigten Pegida-Bewegung. Es war ein Frühsommertag wie aus dem Bilderbuch: Die Sonne schien vom tiefblauen Himmel, die Luft war frisch und die leichte Brise, die durch die Straßenzüge der Altstadt wehte, ließ die Steine der alten Gemäuer nicht allzu heiß werden. Das Auge ergötzte sich an der Pracht der erhabenen Barockbauten. Die Dresdner Frauenkirche, die ich noch als Ruine vor vielen Jahren erlebt hatte, war inzwischen wiederaufgebaut worden und dominierte das Stadtbild. Wir standen am Terrassenufer, nachdem wir am frühen Nachmittag mit der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten und Wahrzeichen der City fertig gewesen waren, und sahen hinüber zu der Neuen Königlichen Stadt, die vor uns auf der anderen Seite der Elbe lag und heute unter dem schlichten Namen Neustadt bekannt war.

»Lass uns mal über die Brücke gehen«, schlug ich Angelina vor, »zu dem Lokal da auf der anderen Seite. Ich erzähl dir mal eine Geschichte.«

»Was für eine Geschichte?«, fragte sie verwundert.

»Warte ab! Komm, wir müssen ja eh später zum Neustädter Bahnhof, dann können wir auch in Neustadt was zu Mittag essen. Komm!«

Ich war schon mal in Dresden gewesen, zu der Zeit, als ich mich zwei, drei Jahre lang als Handelsvertreter für französische Weine versucht hatte. Das Weinhaus bemühte sich nach der Wende um neue Kunden in Ostdeutschland und veranstaltete in Dresden eine Weinmesse, zu der eine große Anzahl von Vertretern aus anderen Regionen rekrutiert wurde, deren Reihen auch Weinvertreter mit eher bescheidenen Verkaufskompetenzen wie mich mit einschlossen.

»Weißt du«, fing ich mit der Geschichte an, während wir über die Augustusbrücke gemächlich spazierten, »damals, als ich mit der Weinfirma in Dresden war, habe ich das Lokal schon einmal besucht.«

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Geli sah mich fragend an.

»Ja, ja, mit den Kumpels von der Weinmesse. Aber eigentlich endete hier schon die abenteuerliche Zechtour durch Dresden. Eigentlich wollten die Typen ursprünglich irgendwelche ›Weiber aufreißen‹. Es war Wochenende, kurz vor Weihnachten, überall wurden Betriebsfeiern mit viel Alkohol gefeiert – die Chancen standen also gut!

»Was?«, fragte sie eingeschnappt. »Welche Weiber wolltest du aufreißen?«

»Ach, Quatsch! Ich doch nicht. Die Kollegen von der Messe.«

»Ach so …«, erwiderte meine Frau hämisch. »Nur die Kollegen, du also nicht?«

»Ja, Moment! Was hätte ich denn machen sollen? Wir waren alle mit einem Auto unterwegs, die Messe war übrigens hier in der Nähe, im Kulturpalast, und untergebracht waren wir in Radebeul, das ist ein Vorort. Ich musste schon mitfahren nach der Veranstaltung, wenn ich nicht am Bahnhof übernachten wollte.«

»Und? Habt ihr welche gekriegt?«, bohrte sie weiter.

»Das ist es ja! Nein, haben sie nicht! Es gab da jemanden, der sich in Dresden auskannte, er lotste uns von einem Etablissement zum anderen. Wo wir bloß nicht überall waren … Im Café Prag lief eine Travestieshow, alle Frauen waren in Begleitung – was für ein Pech aber auch! In irgendeinem Nachtclub hinter einer eisernen Tür an der Betonmauer da hinten unter dieser Brücke herrschte große Langeweile, es gab keine Fenster in diesem Keller und der Club sah aus, als würde dort die Dresdner Unterwelt ihre Sitzungen abhalten. ›Gibt es hier denn nicht irgendeinen Ball der einsamen Herzen?‹, fragte jemand. Danach sind wir drei Stunden kreuz und quer durch die Stadt gefahren auf der Suche nach einem Tanzlokal. In irgendeinem Vorort fanden wir eine Diskothek mit dem Namen ›Discodrom‹. Aber das war auch wieder nichts – da gab es nur ›junge Weiber‹! Wir tranken dort ein Bier und fuhren weiter, es war zum Verzweifeln! Müde und am Boden zerstört kamen wir schon kurz vor elf Uhr abends wieder in die Altstadt, und zwar genau auf diese Brücke. ›Da!‹, rief jemand aufgeregt. ›Da war ein Werbeplakat an dem Schuppen. Da drauf stand: Tanzabend!‹ Wir wendeten und fuhren zurück zum Anfang der Brücke. Das Plakat mit dem Tanzabend hing tatsächlich an der Wand und der Laden war brechend voll. Hier gab es Frauen für jeden Geschmack! Ich sah schon, wie die Augen meiner Kollegen voller Vorfreude glänzten, als der Moderator der Veranstaltung die traurige Ansage machte: ›Und nun folgt der letzte Tanz für diesen Abend. Wir danken Ihnen dafür, dass Sie uns heute besucht haben, und hoffen, dass der Abend Ihnen gefallen hat. Besuchen Sie uns auch am kommenden Wochenende. Vielen herzlichen Dank und auf Wiedersehen!‹ Das war vielleicht lustig, den Gesichtsausdruck meiner Kumpels zu beobachten! Wer hätte es ahnen können, dass die ›einsamen Herzen‹ von Anfang an direkt vor unserer Nase gewesen waren?«

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.844
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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