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Der Brockenwicht: Seite 50
Es war kein schöner Anblick. Es musste sie ganz übel erwischt haben in dem Menschenhaufen – das war mein erster Gedanke. Sie musste unglücklicherweise ganz nach unten geraten sein und war über die komplette Rutschbahn mitgeschleift worden, stellte ich meine arglosen Vermutungen an. Erst Monate später, wenn nicht Jahre, begriff ich, was wirklich passiert war: Sie wurde in dem Getümmel sexuell benutzt und missbraucht von diesen schwarz gekleideten Schändern. Ich erinnerte mich an die Hand, die versehentlich meinen Schenkel erwischt hatte, an das widerwärtige Gefühl, das dabei entstanden war, und stellte mir vor, wie sich die junge Schönheit gefühlt haben musste, als gleich zehn Mann über sie hergefallen waren. Soweit ich mich entsinnen konnte, hatte ich kein einziges Mal mehr in meinem Leben diesen Jahrmarkt besucht.
Das Bild des missbrauchten Mädchens, das weinend an der Riesenrutsche stand, hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und erschien mir nunmehr im Wechsel mit den hinzugekommenen Bildern der blonden Halbhexe, während ich keuchend auf dem Wabenweg nach oben kroch. Es war erstaunlich, wie ähnlich sich die jungen Frauen sahen, und auch die Umstände, bei denen ich sie kennengelernt hatte, waren alles andere als von Grund auf verschieden. Projizierte ich nicht die traumatischen Erlebnisse aus meiner Kindheit auf den heutigen Tag, mitsamt den Ereignissen und Personen? Hatte mein Brockenwicht nun doch die Wahrheit gesagt und nichts war, wie es schien, und keiner war derjenige, wen ich sah?
(?)
Ich hatte endlich die Biegung geschafft, hinter der meine Frau, wie es mir vorkam, schon vor einer Ewigkeit und zwei Tagen verschwunden war, als sie nach mir gerufen hatte. Vor mir öffnete sich ein weitgehend kurvenfreier Abschnitt des Hirtenstiegs, die grün phosphoreszierenden Betonplatten zogen sich wie ein Steg bergauf und wiesen mir den Weg durch die Nacht. Ich musste mich zum Glück nicht wie die arme Hexe durch den dunklen Wald schlagen, ich konnte zumindest etwas in dem schwachen Streulicht des Weges sehen. Aber auch die Nacht war nicht mehr so stockfinster wie zuvor. Vorne, wo sich der betonierte Weg in der Ferne verlor, zuckte die Flamme eines Lagerfeuers neben dem Steig im leichten Wind und ließ die flackernden Lichter auf der undurchdringlichen, pechschwarzen Wand des Waldes tanzen. Auch die Umrisse einer Schutzhütte zeichneten sich immer deutlicher ab im schwachen Licht des Feuers, während ich mich langsam und vorsichtig dem Lager neben dem Weg näherte. Es hätte der Rastplatz sein können, den ich mir auf der Tafel unten bei der Hermannsklippe gemerkt hatte, ich wusste aber nicht mehr, wie er hieß. Es machte auch keinen Unterschied, ich konnte hier etwas verschnaufen, vorausgesetzt, es würden nicht erneut irgendwelche grausamen Kreaturen erscheinen. Ich freute mich schon auf Gesellschaft und eine gesellige Runde am knisternden Lagerfeuer, denn es mussten meiner Ansicht nach auch irgendwelche Wanderer sein wie ich, die hier ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Es musste ja schließlich auch menschliche Wesen auf diesem Teufelsstieg geben, den Heinrich-Heine-Weg bewanderten hunderte von Leuten! Auf jeden Fall war ich felsenfest davon überzeugt, dass Zerbolte kein Feuer neben dem Betonplattenweg machen würden. Aber würden denn Touristen im Nationalpark mit offenem Feuer hantieren? Ich verdrängte diese Frage: Egal, wer es war, Hauptsache, keine fleischfressenden Bestien. Vier Personen saßen bequem auf dem Boden rund um die Feuerstelle, schauten sich die verglimmenden Kohlen an und unterhielten sich. Ich bekam noch die letzten Worte ihres Gesprächs mit. Eine männliche Stimme sagte: »… und so geht es immer weiter! Und es ist kein Ende in Sicht.« Alle sahen in meine Richtung, als sie hörten, wie ich mich dem Platz näherte, und eine zweite männliche Stimme fragte: »Wer schleicht sich hier wieder rum?« »Keine Bange!«, versuchte ich zu scherzen und trat aus dem Schatten der Nacht ans Lagerfeuer. »Ich komme mit friedlichen Absichten! Ich wollte Sie nur nach dem Weg fragen.« »Nach dem Weg?«, wunderte sich die erste Stimme, die einem mürrisch dreinblickenden Mann um die sechzig gehörte. »Dann sind Sie nicht der Einzige! Nach dem Weg würden wir hier alle gerne jemanden fragen!« Alle lachten auf und ich sah irritiert in die Runde. »Nee, das war ni persönlich gemeent!«, sagte die einzige Frau am Lagerfeuer gutmütig. »Mir sitzen hier schon seit Stundn fest, weil mir in dor Dunkelheit nich den Weg finden können, und nun kommt jemand und fragt ausgerechnet uns danach!«
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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