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Der Brockenwicht: Seite 49
Es wurde dunkel, die Beleuchtung ging an und immer mehr Volk stieg die Treppe zum Schneehügel hinauf, um im nächsten Augenblick als Teil eines wilden, lärmenden Haufens angetrunkener Menschen den Hang hinunterzurasen. Bisweilen rutschte dabei jemand aus und die ganze Rutschgesellschaft ging lachend und kreischend zu Boden mitten auf der abschüssigen Eisbahn. Hände, Beine, Köpfe stachen aus dem vorbeischlitternden Menschenknäuel hervor und man konnte nicht mehr unterscheiden, wem welches Körperteil gehörte. Es ging lustig zu und wir fanden es sehr aufregend, uns einer der hinabrasenden Menschenketten anzuhängen oder gleich mit Schwung vom Rand der Rutschbahn in das Gemenge aus menschlichen Körpern zu springen! Die ersten Anzeichen des drohenden Ungemachs erkannte sogar ich als kleiner Bub, als eine Reihe von dubiosen, alkoholisierten Jugendlichen auftauchte. Es waren Burschen im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren, die sich ziemlich daneben benahmen, vorbeilaufende Mädchen bedrängten und so auftraten, als wollten sie einen Streit oder gar eine Schlägerei anzetteln. Ihr Erscheinungsbild ließ sofort an die miesen Typen denken, die die Unterstufler auf dem Schulhof unter Androhung von Prügel um Kleingeld erpressten, man hielt sich am besten fern von ihnen. Die Gang verteilte sich auf beiden Seiten der Rutschbahn und beobachtete aufmerksam die abfahrenden Gruppen. Sie führten etwas im Schilde. Ich hatte den Eindruck, dass die Jungs die ganze Zeit absichtlich ein Geschubse und Gedränge verursachten, damit die Leute auf der Rutschbahn zu Fall kamen. Dann stürzten sie sich in die Menschenmenge. Ich hatte als ahnungsloser Knirps nicht den blassesten Schimmer, was sie damit bezweckten, aber es war mir aufgefallen, dass ihre Aktivitäten enorm zunahmen, wenn sich in der Gruppe junge Frauen befanden oder Mädchen, die sich nach meinen damaligen Vorstellungen schon ziemlich weit in dieser Hinsicht entwickelt hatten. Die Augen der zwielichtigen Gestalten blitzten regelrecht auf, als oben auf der Rutsche ihr nichts ahnendes Opfer erschien. Es war eine junge Schönheit in Begleitung ihrer Bekannten: zwei, drei Freundinnen und des einen oder anderen Jungen – alle vermutlich aus ein und derselben Schulklasse der Oberstufe. Sie trug einen kurzen weißen Pelzmantel und kam einem vor wie eine Märchenprinzessin inmitten der Menge eher dunkeltönig gekleideter Menschen. Sie war blond, ihr langes gewelltes Haar passte nicht unter ihre Mütze und floss weich in feinen Strähnchen über den schneeweißen Schal an ihrem Hals. Sie zögerte noch mit der Abfahrt, als spürte sie unbewusst das Unheil, das sie erwartete, doch die anderen redeten so lange auf sie ein, bis sie den verhängnisvollen Schritt nach vorne gemacht hatte.
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Wie aus dem Nichts aufgetauchten Übeltäter drängten von hinten und brachten nicht nur diese kleine Gruppe in Bewegung, sondern auch andere Jahrmarktbesucher, die sich oben auf der Rutsche tummelten. Die angeheiterte Menschenmenge nahm Fahrt auf, als sich einer der Gangster wie eine schwarze Krähe vom Rand der Rutschbahn löste und sich unter die Füße der Rutschgesellschaft warf. Alles flog in wildem Durcheinander kopfüber aufs Eis, es entstand ein Chaos, die Menschen aus den hinteren Reihen fielen über die Vorderleute, die versuchten, wieder auf die Beine zu kommen, um nicht zerdrückt zu werden. Als hätten die bösen Jungs nur darauf gewartet, stürzten sie sich auf das Gemenge wie Geier auf ein verendetes Tier. Auch mich hatte der Menschenstrudel erfasst, ich lag irgendwo unten und hatte unter dem Gewicht der menschlichen Körper Schwierigkeiten zu atmen, als ich spürte, dass eine Hand fest mein Knie umschlang und sich mit tastenden Bewegungen meinen Schenkel hocharbeitete. Zum Glück ließ in diesem Moment der Druck von oben nach, ich konnte mich aufrichten und merkte, dass die Hand einem der Angreifer gehörte, er zog sie rasch zurück, als hätte er plötzlich gemerkt, dass ich gar nicht so recht in sein Beuteschema passte. Ich wunderte mich nur und kroch mit Mühe aus dem Getümmel heraus, fand meine Kumpanen wieder und wir wechselten alsdann die Rutsche. Noch eine ganze Weile, glitt der brodelnde Pulk langsam den Schneeberg hinunter, während wir auf der zweiten Rutsche unsere Kunststücke auf der Eisbahn vollführten. Höchstwahrscheinlich hätte ich den Vorfall auch bald vergessen, wenn nicht einige Zeit später über den Platz eine Reihe von Ordnungshütern zu der Menschenansammlung am Fuße der Riesenrutsche eilte. Es waren vermutlich die Reste der Rutschgesellschaft von vorhin und einige Schaulustige, die sich inzwischen eingefunden hatten. Alle begafften die blonde Märchenprinzessin, die mit ihren Freunden in der Mitte stand und bitterlich weinte. Ihr fehlte die Mütze, das Haar war zerzaust, das Gesicht verschmiert mit Schmutz und Tränen. Der Pelzmantel hatte keine Knöpfe mehr, im offenen Spalt blitzte etwas Weißes an ihrem Körper. Einer ihrer Schuhe war abhandengekommen, sie stand mit einem bloßen Fuß im Schnee, und auf den Beinen hingen die Reste ihrer zerfetzten Hose.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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