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Der Brockenwicht: Seite 48

Was hatte ich angerichtet? Was hatte ich, verdammt noch mal, bloß angerichtet? Ich stellte mir seit fünf Minuten unentwegt ein und dieselbe Frage, während ich auf den kalten Betonplatten des Weges saß, meine Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Sie war ganz einfach zu beantworten, aber ich traute mich nicht, die Wahrheit zu artikulieren. Sie würde sich nämlich so anhören, dass ich mich der Mittäterschaft an einer Gruppenvergewaltigung schuldig gemacht hatte. Ja! Es war nichts anderes gewesen. Warum hatte ich die Kleine nicht schon auf ihre Bitte hin auf die verflixten Betonplatten gezogen und ihr hinter der Mauer Schutz geboten? Warum? Warum musste ich wie ein Idiot einen Propheten spielen und versuchen, sie auf den rechten Weg zu bringen? Es war doch alles ein intergalaktischer Schwachsinn! Man konnte von anderen nicht irgendwelche ernst gemeinten Zugeständnisse erzwingen, indem man davon die eigene Hilfeleistung abhängig machte. Das kannte ich doch nur zu gut, man nannte es auch Erpressung. Die niedliche Halbhexe war noch anständig genug gewesen, mir ins Gesicht zu sagen, was sie von meinem Angebot hielt. Ein anderer hätte heuchlerisch zugestimmt, nur um sein Ziel zu erreichen, und hätte das gegebene Versprechen gleich wieder vergessen. In der wunderschönen blonden Frau war offenbar noch viel vom Menschlichen übrig geblieben, ich hätte sie auch noch später überzeugen können von der Fehlerhaftigkeit ihrer Annahme, dass das Böse ihr zum Glück verhelfen würde! Oder ich hätte zumindest versuchen können, ihr mit einfachen Worten zu erklären, dass am Ende sie die Dumme sein würde. Das hätte das schöne Mädchen eher verdient, als den Zerbolten zum Fraß vorgeworfen zu werden. Und noch ein ganz großes »Warum« stand am Anfang der Frage, die in meinem Kopf wie ein schwerer Betonklotz lag und nach Antworten verlangte: Warum hatte ich nicht in letzter Sekunde interveniert und nach ihrem Arm gegriffen, um sie zu retten? Ich war inzwischen davon überzeugt, dass der verzauberte Betonwabenweg sehr wohl vor den Bluthunden schützte. Mir hatte keine große Gefahr von ihrer Seite gedroht, dennoch hatte ich gezögert. Hatte ich Berührungsängste im Umgang mit einer Hexe, einem fremdartigen Wesen, auch wenn es nur eine halbe war?

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Am liebsten hätte ich jetzt eine Selbstanzeige bei der Polizei gemacht und ein umfassendes Geständnis darüber abgelegt, wie ich eine Misshandlung mit meinem Nichtstun herbeigeführt hatte. Aber es gab hier keine Polizei, man konnte sich nur bei dem Teufel persönlich beschweren. Er hätte sich bestimmt gerne der Sache angenommen – gönnerhaft gelächelt, mich mit seinen List ausstrahlenden Augen angesehen und die Ermittlungen seiner Zerboltstaffel übertragen! In bester Tradition von korrupten Autoritäten, wenn die Ermittler in aller Regel auch gleichzeitig diejenigen waren, gegen die ermittelt werden musste, womit sich der Kreis wieder schloss. Wahrhaft ein Teufelskreis, denn auch wenn Fausts Kumpan die Schandtat nicht selbst ausgeführt, hieß es noch lange nicht, dass er nichts davon wusste oder sie nicht sogar selbst angeordnet hatte.

Ich wanderte den Zerbolten hinterher. Mein schlechtes Gewissen gab mir keine Ruhe. Erinnerungen plagten mich. Ich war damals noch ein Kind gewesen, als sich vor meinen unschuldigen Knabenaugen eine Szene abgespielt hatte, die mich an das gerade eben Erlebte sehr erinnerte.

 

In unserem Stadtbezirk gab es eine riesige unbebaute Fläche, wo jedes Jahr für die Zeit der Winterferien zwei große Schneerutschen aufgeschüttet wurden. Die Rutschen waren nicht einfach groß, sie waren gigantisch! Der Schnee wurde schon Wochen davor mit Kipplastern herbeigekarrt und mehrere Bulldozer waren tagelang damit beschäftig, die Schneeberge zu zehn Meter hohen Rutschen zu formen. Jeden Abend war der Platz hell beleuchtet, große Menschenmengen strömten zu dem Rummel trotz Frost und Eis, um an den Schießbuden ihr Glück zu versuchen und an den Imbissständen die wärmende Wirkung eines Schnäpschens über sich ergehen zu lassen. Kurz, jeder wollte irgendwie an den Neujahrsfestivitäten teilnehmen, die noch weit in den Januar hinein andauerten.

Die Rutschen waren die Hauptattraktion und wir – ich und noch drei oder vier meiner elfjährigen Schulkameraden – beschlossen an dem Tag, keine Zeit an den zweitrangigen Fahrgeschäften zu vergeuden. Wir begaben uns gleich zu den Riesenrutschen, als wir noch bei Tageslicht auf dem Jahrmarkt ankamen. Eine rasante Abfahrt folgte der anderen – mal auf einem Stück Pappe unter dem Gesäß, mal mussten die Schuhsohlen als Rutschunterlage herhalten, wenn man den Kameraden seine Künste vorführen wollte und im Stehen die Rutschbahn hinunterschoss auf die Gefahr hin, sich noch zu allem Überfluss den Hals zu brechen.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.825
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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