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Der Brockenwicht: Seite 45

Ich musste endlich weiter. Die Lage hatte sich beruhigt, ich konnte mich wieder frei bewegen, ohne Gefahr zu laufen, von irgendwelchen Zerbolten zerfetzt zu werden, vorerst. Die Kreaturen kamen in Goethes Geschichte aber nicht vor, fiel es mir ein, nachdem ich die ersten Schritte auf dem leuchtenden Betonwabenweg gemacht hatte. Es gab sie aber. Schon mein Wicht hatte mich vor ihnen gewarnt und ich hatte auch persönlich schon so eine zerboltsche Staffel erlebt. Es war sicher kein Beweis für ihre reale Existenz, aber ich verspürte auch nicht den allerkleinsten Wunsch, meine Zweifel auf experimentellem Wege zu zerstreuen. Warum hatte der gute Johann nichts von ihnen berichtet? Hatte er etwas in seiner Geschichte vom Brocken verschwiegen? Die Frage konnte ich nicht beantworten und schritt einfach vorwärts, gespannt darauf, welche Wendung meine Odyssee nehmen würde.

Wie Faust mit seinem Begleiter so spielerisch leicht, so schnell hinter der Kurve verschwinden konnten, war mir ein Rätsel. Ich krebste auf dem Betonwabenweg und hatte die Mühe, meine Füße vom Boden zu lösen, geschweige denn, mich dabei noch mit jemandem zu unterhalten, wie die beiden es getan hatten. Zwanzig Schritte waren das Maximum, das ich imstande war am Stück zu machen, ehe ich wieder wie ein Lappen willenlos auf meinen Wanderstöcken hing. Geli musste schon kilometerweit weg sein, überlegte ich. Um sie machte ich mir erstaunlicherweise keine großen Sorgen. Mein Brockenwicht hatte mir seinerzeit versichert, dass einem nicht das Geringste passieren konnte, solange man die mysteriösen Erscheinung nicht wahrnahm. Dennoch, er war auch derjenige, der behauptet hatte: »Nichts ist so, wie es zu sein scheint.« Bei dieser These kamen bei mir mittlerweile gewisse Zweifel auf. Alles, was innerhalb der letzten Stunde vorgefallen war, konnte ich nicht einfach als nicht existent abtun.

Unerwartet vernahm ich ein knackendes Geräusch aus dem dunklen Wald rechts neben dem Pfad. Jemand näherte sich dem Weg und die trockenen Äste auf dem Boden knisterten unter seinen Füßen. Einige Augenblicke später erkannte ich im dämmrigen Schein des Hirtenstiegs eine weibliche Gestalt, die neben dem Betonwabenweg stand und ihre Hände flehend gegen ein unsichtbares Hindernis presste, als würde eine durchsichtige Glasscheibe sie vom Pfad trennen. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, sah mitleiderregend aus. Sie trug ein langes weißes Nachthemd, das ihr bis unter die Knie reichte, und war barfuß, als wäre sie gerade erst ihrem Bettchen entsprungen, in dem sie ihre warmen, süßen Kinderträume geträumt hatte. Ihr langes blondes Haar, das ihr über die Schulter fiel, war zerzaust, das Gesicht verschmutzt und die Füße wiesen blutige Spuren der Begegnungen mit scharfkantigen Steinen auf. Nichtsdestoweniger erkannte man sofort, dass sie eine Frau von unbeschreiblicher, graziöser Schönheit und Vollkommenheit war. Sie folgte mir mit ihrem verzweifelten, um Hilfe rufenden Blick und sagte kein Wort.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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»Was ist passiert?«, fragte ich aufgeregt, als ich mich näherte. Ich wusste nicht, ob sie ein normal sterblicher Mensch war oder mit den Furien von vorhin Umgang pflegte, die Frage hatte sich von alleine von meinen Lippen gelöst. Ich war damit volles Risiko eingegangen, aber letztendlich war es nicht mehr von Bedeutung, die blonde Anmut hatte mich bereits entdeckt und wenn sie von der üblen Sorte gewesen wäre, hätte mich mein Schweigen auch nicht mehr gerettet.

 

»O lasst mich sprechen, Euer Gnaden!

Unendlich zieht sich dieser Faden,

Der mich zum Gipfel führen soll,

Und macht mein Dasein grauenvoll«,

 

gab sie zur Antwort. Eine Normalsterbliche war sie offenbar nicht, denn die Schöne sprach auch in diesen seltsamen Vierhebern, die ihr vermutlich schon Goethe mit auf den Weg gegeben hatte. Aber den Megären konnte man sie auch nicht zuordnen. Ich gab zu verstehen, dass ich bereit war zuzuhören und sie sprach weiter:

 

»Lasst mich mit Euch des Pfades wandern,

Ich kann nicht fliegen wie die andern.

Der Weg ist mühsam durch den Wald,

Erbarmet Euch! Es ist so kalt!

So gebt mir Eure starke Hand,

Lasst mich nicht stehen hier am Rand.

Nehmt Euch zu Herzen meine Trauer

Und helft mir über diese Mauer.«

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.825
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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