Ich glaubte, das Rätsel gelöst zu haben, wer und was die schöne Frau war, die mich voller Verzweiflung um einen Gefallen anflehte. Es musste die Halbhexe sein, an die ich mich vorhin erinnert hatte. Ich überlegte: Es war natürlich kein großer Akt, dem Fräulein die Hand zu reichen und sie auf den Betonwabenweg zu ziehen, aber ich wurde misstrauisch. Was, wenn …? Ich wusste nicht genau, wenn was sich letztendlich herausstellen sollte, aber etwas hielt mich davon ab, der Frau unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Sie war immerhin eine halbe Hexe! Und über welche Mauer sprach sie überhaupt?

»Nun sag, mein Kind. Was hindert dich …?«

Ich hatte die Frage beinahe schon auf meinen Lippen, als ich mich plötzlich dessen besann, dass ich anscheinend vorhatte, in Versen zu sprechen. Ich musste mich vor der angehenden Hexe nicht noch mit meinen dichterischen Fähigkeiten blamieren und fragte schließlich einfach: »Sag mal, wieso kannst du denn nicht selbst auf diese Betonplatten draufspringen?« Ohne nachzudenken, antwortete sie mit kläglicher Stimme:

»Das ist ein mir verbot'ner Weg,

Er ist ein Mittel zu dem Zweck

Und ist belegt mit einem Bann,

Den meine Kraft nicht brechen kann.

So lange Zeit schon steige ich,

Der Gipfel ist noch nicht in Sicht.

Doch muss ich ihn erreichen! Droben

Werd' ich zur vollen Hex' erhoben.

Statt meine Füße wund zu laufen,

Würd' ich viel lieber zu dem Haufen

Gelangen ohne Stein und Stock

Und stürmisch tanzen mit dem Bock!«

Dafür, dass die Halbhexe so jämmerlich aussah, war sie doch ganz schön gerissen! Sie wollte den Pferdefuß an der Nase herumführen. Mephisto hatte hier offenbar irgendeine Regel aufgestellt, nach der jede Novizin den beschwerlichen Weg nach oben durch den dunklen Wald halbnackt bei Wind und Wetter meistern musste, ehe sie als der Vollhexenschaft würdig angesehen wurde. Die schöne Kleine wollte sich daran vorbeimogeln. Und ich sollte ihrer Meinung nach mit meiner Gutmütigkeit dabei die Schlüsselrolle spielen und sie auf den angeblich sicheren Betonwabenweg ziehen. Es war ein sehr raffinierter Plan, musste ich zugeben. Er hätte sogar funktionieren können, denn ich war zu Tränen gerührt von ihrer misslichen Lage.

Aber noch ein anderes Thema beschäftigte mich: Wenn es den Tatsachen entsprach, was die halbe Hexe berichtet hatte, und der Betonwabenweg aufgrund irgendeines Zaubers von einem unsichtbaren Schutzschild umgeben war, den nicht mal die Wesen der Schattenwelt zu durchbrechen in der Lage waren, hieß es auch, dass ich mich auf den elenden Betonplatten relativ sicher vor den blutrünstigen Zerbolten fühlen konnte? Es wäre von größtem Vorteil gewesen, die Antwort auf diese Frage zu wissen, denn mittlerweile hatte ich kaum noch Bedenken, dass sich hier alles nach dem realen Szenario der bekannten Tragödie abspielen würde. Es war überlebenswichtig, wie es schien. Ich zweifelte nicht mehr daran, dass bald auch der Rest der gefährlichen Kreaturen und Geister die Bühne betreten würde.

»Weißt du, was?«, sagte ich zu dem Hexenfräulein. »Ich kann dir helfen. Ich werde dich über diese Zaubermauer auf den Betonwabenweg herüberziehen, aber nur mit einer Bedingung! Du gehst danach nicht zum Gipfel, sondern zurück nach Ilsenburg. Du suchst dir eine anständige Arbeit und gründest eine Familie – du bist eine sagenhaft schöne Frau, da sehe ich keine Probleme! Und du versuchst, das Ganze hier zu vergessen wie einen albernen Traum.«