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Der Brockenwicht: Seite 44

Die Hexen brachen in Jubel aus, wirbelten zum letzten Mal im Kreis über unseren Köpfen und flogen jauchzend zum Gipfel hinauf, während sich die beiden Kuttenträger in Bewegung setzten. Ich hielt den Atem an. Meine Tarntechnik funktionierte. Aber leider nur bei dem Grauhaarigen. Als die beiden mit mir auf einer Höhe waren, schielte der betrügerisch wirkende Mann verdächtig in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Er konnte mich sehen! Er musterte mich mit seinem Blick, während sie vorbeischritten, und drehte sich noch einmal um, nachdem sie sich bereits ein Stück entfernt hatten, als suchte er noch irgendeine Bestätigung für seine Annahme. Sein Blick wirkte unheimlich.

Der Schein der Laterne entfernte sich immer weiter und die Stimmen wurden immer leiser. Das Letzte, was ich noch vernahm, ehe sie ganz verstummten, waren die Worte des jüngeren Mannes, der den Pokal mit dem Zaubertrank nach wie vor in seiner Hand trug und hin und wieder genüsslich daran nippte:

 

»Mein edler Freund, so lass uns prosten!

Glaub mir, du kommst auf deine Kosten.

Dort brennt ein Lagerfeuer hell,

Mach dich gefasst …«

 

Ich stand wieder allein auf dem Pfad in der Dunkelheit. Ich war wie gelähmt und fürchtete mich davor, mir selbst zu gestehen, dass mir die Szene, die ich gerade erlebt hatte, sehr wohl bekannt war. Etwas in meinem Inneren weigerte sich beständig, die Erkenntnis zu akzeptieren, dass ich vor fünf Minuten Zeuge der Ereignisse der Walpurgisnacht auf dem Brocken geworden war, mit Doktor Faust und Mephistopheles als Hauptakteure. Und allem Anschein nach waren sie nicht von Schauspielern verkörpert worden. Sie waren mehr oder weniger real gewesen, zumindest hatte ich sie so empfunden. Merkwürdig erschien gleichwohl der Umstand, dass ich Goethes Figuren an dieser Stelle des Berges begegnet war, denn in seinem Stück bestiegen die beiden den Blocksberg irgendwo von Schierke aus. Das lag auf der anderen Seite des Brockens und soweit ich mich noch an die Wanderkarte erinnern konnte, führte kein Weg um den Berg herum, um sie zur Hermannsklippe zu bringen, wo sie anscheinend den Hirtenstieg beschritten hatten wie wir mit Geli zuvor. Darüber hinaus gab es aber noch eine Ungereimtheit, die mich an der Echtheit der gesehenen Erscheinung zweifeln ließ: Mir lagen keine Informationen vor, die Goethes Version der Geschichte infrage stellten, dass Faustus seinem teuflischen Kumpan in der Nacht vom dreißigsten April auf den ersten Mai zum Hexensabbat folgte – in der Walpurgisnacht. Wir hatten aber schon Anfang Juli! Wie verhielt sich das miteinander? Oder kam sogar der Teufel manchmal durcheinander mit seinem Terminkalender aufgrund hoher Besucherzahlen auf dem Berg, ähnlich wie seine Hexenclique. Das schien mir alles nicht zueinanderzupassen. Aber was wusste ich schon von der ganzen Hexenküche hier oben? Der Teufel war hier zu Hause.

(?)
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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Ich versuchte krampfhaft, mich an die Szenen der Walpurgisnacht in Wolfgangs »Faust« zu erinnern. Wie ging noch mal genau die Handlung, welche Figuren kamen da sonst noch vor? Es war schon lange her, dass ich mir den schweren Stoff zu Gemüte geführt hatte, aber die Erinnerungen hätten mir helfen können und ich strengte mein Gehirn an. Ich suchte wenigstens nach ein paar Anhaltspunkten, um beurteilen zu können, ob das, was ich gesehen hatte oder noch zu Gesicht bekommen würde, Goethes Beschreibung entsprach und hätte real sein können oder ob die Ereignisse hinten und vorne nicht stimmten und somit wieder mal ein Produkt meiner Fantasie darstellten. Es war mir bewusst, die Methode war unsicher, denn Johann Wolfgang hätte sich die Geschichte ebenfalls ausdenken können und dann hätte nichts mehr einen wahren Inhalt gehabt. Aber was blieb mir sonst noch übrig? Am Ende hatte ich in den hintersten Ecken meines Gedächtnisses etwas gefunden: Ich erinnerte mich an zwei Hexen, eine Alte und eine Junge, und ich glaubte, die beiden bereits gesehen zu haben. Was fehlte, war der hemmungslose Tanz, den Faust mit der reizenden jungen Schönheit vollführte, aber er kam vielleicht noch später. Dann gab es noch eine untröstliche Halbhexe, die schon jahrelang erfolglos damit beschäftigt war, den Brocken zu ersteigen, um am Sabbat teilzunehmen. Außerdem waren Faust und Mephisto noch einer Trödelhexe begegnet, an Einzelheiten konnte ich mich nicht erinnern. Ganz verschwommen sah ich vor meinen Augen noch irgendeine Gesellschaft am Lagerfeuer, aber ich wusste nicht mehr, welche Rolle sie in der Geschichte von Goethe spielte und wie die Figuren hießen. An der Stelle, wo in der Walpurgisnachtszene die Gestalten der griechischen Mythologie ins Spiel kamen, klaffte in meiner Erinnerung ein großes schwarzes Loch. Alles in allem war es nicht viel, aber ich musste damit zurechtkommen, was ich hatte.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.825
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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