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Der Brockenwicht: Seite 41
Ich stützte mich ab auf die Wanderstöcke und stand wild keuchend in der Dunkelheit mitten auf dem leuchtenden Weg, als ich unverhofft von hinten Stimmen von zwei Menschen hörte, die allem Anschein nach den Hirtenstieg hinaufwanderten und sich dabei unterhielten. Ich drehte mich um und bemerkte in der düsteren Mittagsnacht ein flackerndes Licht, das die Gesichter von zwei Männern in der Dunkelheit erkennen ließ. Es schwebte scheinbar frei in der Luft und schien die Flamme einer Laterne zu sein, die allerdings keiner von den beiden in seiner Hand hielt. Soviel ich sah, konnte ihre Kleidung unmöglich aus diesem Jahrhundert stammen, und vermutlich auch nicht aus dem letzten oder vorletzten. Solch merkwürdige Umhänge, wie die Männer sie trugen, hatte ich noch nie in Wirklichkeit gesehen, höchstens auf den Leinwänden alter Renaissancekünstler. Sie schritten des Weges, ohne sich sichtlich anzustrengen, und führten ihr Gespräch. Waren es zwei äußerst fitte Wanderer, die hier eine Maskerade veranstalteten, oder waren es zwei verkleidete Hundemenschen, von denen mir der Brockenwicht berichtet hatte? Ich fragte mich, was ich machen sollte. Man hätte sich natürlich hinter den Tannen neben dem Weg verstecken können, bis die zwei Gestalten vorbeimarschiert waren, aber ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, was mein kleiner Wicht mir mit auf den Weg gegeben hatte: »Verlass nicht den Weg und verhalte dich ruhig.« Ich erstarrte zu einer Steinsäule und blieb mucksmäuschenstill stehen, als ich hörte, wie sich mir etwas aus der Dunkelheit mit stampfenden Geräuschen von hinten näherte. Es hörte sich an wie eine kleine Soldateneinheit, die im Gleichschritt neben den Betonplatten den Berg hinaufmarschierte. Das wenige Streulicht, das der Hirtenstieg spendete, reichte aus, um festzustellen, dass es keine Volksarmisten aus vergangenen Zeiten waren, sondern eine Einheit Zerbolte. Der Wicht hatte recht gehabt, ich erkannte sie sofort, ohne die Wesen vorher gesehen zu haben. Ich senkte meinen Blick und dachte: »Komme was wolle, ich rühre mich nicht vom Fleck!« »Hu. Hu. Hu. Hu«, hörte ich die Zerbolte im Takt ihrer Schritte atmen und sah aus dem Augenwinkel wie der Zug an mir in Zweierreihen vorbeistapfte.
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Sie waren zehn an der Zahl, angeführt von einem Zerboltoffizier. Alle waren großgewachsen, gut einen Kopf größer als ich. Viel mehr konnte ich von ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht behalten, aber die kräftigen Fänge in dem halbgeöffneten Hundemaul und die widerliche, vor Speichel triefende Zunge brannten sich in mein Gedächtnis ein, und ihre Augen … sie leuchteten Unheil ausstrahlend tiefrot in der Dunkelheit. Die Zerboltsoldaten nahmen allesamt keine Notiz von mir und verschwanden in der Nacht genauso schnell, wie sie aufgetaucht waren. »Stimmt«, fiel es mir wieder ein, »der Wicht meinte doch, dass die Wesen mich nicht sehen können, wenn ich den Mund halte und meine Anwesenheit nicht durch andere Geräusche verrate!« Fürwahr, mein kleiner, frecher Schutzengel, es war ein sehr wertvoller Rat gewesen! Wie ich ihn gerade vermisste auf meiner Schulter! Er hätte es mir bestimmt ins Ohr flüstern können, was es mit diesen zwei Gestalten auf sich hatte, die in ihren mittelalterlichen Mönchskutten langsam, aber unaufhaltsam auf mich zukamen, – ob sie friedliche Absichten hatten oder etwas Böses im Schilde führten? Aber er war weg. »Für immer?«, fragte ich mich mit dem sehnlichsten Wunsch, unverhofft eine seiner Frechheiten aus dem Wald zur Antwort zu bekommen, und musste mir die Frage selbst beantworten: »Höchstwahrscheinlich.« Denn der angekündigte Ablösewicht, den wir am Brockenbett treffen würden, war nicht mehr mein Brockenwicht … Ich wusste nicht recht, was ich von ihm halten sollte. Ich wusste nicht einmal, ob wir überhaupt noch auf die andere Seite des Berges kommen würden, so wie sich die Sachen entwickelten. Wie kam man hier durch die Finsternis auf die andere Seite des Berges? Wohin führte überhaupt der geheimnisvoll leuchtende Betonwabenweg? Plötzlich spürte ich einen kühlen Luftzug, der von unten aus der Richtung der beiden rätselhaften Figuren kam. Das Lüftchen säuselte leise in den Zweigen der Tannen und brachte einige Fetzen ihrer Unterhaltung zu meinen Ohren. Der Jüngere sprach zu dem Älteren:
»Hörst du die Stimmen in der Nacht? Die Stunde schlägt. Der Berg erwacht! Da reitet, ei, die Hex' entlang, Sie bringt dem Hauf den Zaubertrank …«
Der Wind blies mit einem Mal kräftiger und bald hörte ich ein seltsames Rauschen in der Luft, das abwechselnd anschwoll und dann wieder abklang, als würde ein riesiger Schwarm Fledermäuse über meinem Kopf seine Kreise ziehen. Heiteres Gelächter und fröhliches Gejubel machten sich breit. Mehrere Frauenstimmen schlossen sich zu einem Chor zusammen und stimmten ein Lied an. Sie trafen keinen einzigen Ton richtig, sodass sich hinter dem Gesang keine Melodie erkennen ließ. Der derbe anzügliche Text ließ keine Zweifel übrig, dass es sich um eine Hexenschar handelte, die zum Gipfel unterwegs war. Verdammt, der Wicht hatte abermals recht gehabt, sie schliefen nicht mehr in ihren Höhlen, oder wo immer sie sich sonst aufhielten, sondern feierten täglich ausgelassen ihren Sabbat.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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