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Der Brockenwicht: Seite 27
»Ich glaube, wir müssen jetzt nach rechts gehen«, mutmaßte ich, während ich dem Mann hinterherschaute. »Ich frage mich, ob nicht das hier der richtige Wanderweg ist, wo der Mann gerade läuft, und wir den falschen genommen haben, durch diesen unwegsamen Wald.« »Ich weiß nicht. Aber der Wald war schrecklich. Ich habe Angst gehabt«, gestand meine Frau. »Okay, dann hast du gleich die Möglichkeit, dich etwas zu zerstreuen. Große Freude: Eine Stempelstelle befindet sich in unmittelbarer Nähe! Komm.« Wir mussten endlich weg von diesem grauenvollen, finsteren Tannendickicht, ich konnte im Augenblick darauf verzichten, an die furchterregenden Kreaturen aus dem Hexenwald erinnert zu werden, obgleich ich hinsichtlich der seltsamen Dinge die Ruhe selbst zu sein schien, seitdem mein Schutzwicht auf meine Schulter geklettert war. Er hatte auch so etwas wie eine entspannte Wanderung versprochen, sobald wir den Wald verlassen haben würden. Demnach gab es aktuell nichts zu befürchten, wir wanderten weiter zur Stempelsbuche. »Tuuut, tutut, tutut, tuuut!«, trompetete es plötzlich über Berg und Tal. «Tschu-tschu-tschu-tschu, tschu-tschu- tschu-tschu …« »Was ist das?«, fragte meine Frau erschrocken. »Die Bimmelbahn zum Brocken, gehe ich mal von aus!«, antwortete ich. »Ja, der Zwölf-Uhr-Zug aus Wernigerode«, gab der Brockenwicht seinen Senf dazu. »Sag mal, guter Mann, wie sollen da noch die Furien bei dem Lärm schlafen?« Ich zuckte mit der Schulter, damit er wieder verstummte. »Das war das Horn der Dampflok«, fuhr ich fort. »Es klingt aber wirklich verdammt laut! Wir sind noch kilometerweit entfernt, aber es hört sich an, als würde die Lok an einem vorbeifahren.«
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Ich musste dem Brockenwicht recht geben. Massentourismus war in die entlegensten Ecken dieser Welt vorgedrungen und schöner wurden sie davon weiß Gott nicht. Es widerte mich zuweilen an, auf einem stolzen Gipfel die Hinterlassenschaften von irgendwelchen Picknickfreunden vorzufinden, die mit dem Ausflugsauto eines Reiseveranstalters gebracht wurden. Nicht wesentlich schöner sahen Korallenriffe aus, wo man vor lauter Einkaufstüten im Wasser keine Fische mehr erkannte. Aber andererseits wollte auch ich die entferntesten Orte besuchen, die Natur erleben und die höchsten Gipfel besteigen. Ich nutzte ebenfalls gerne die Angebote der Tourismusbranche und nahm an, dass ich hier und da schon mal ein paar unliebsame Spuren hinterlassen haben konnte. Es war ein großes Dilemma. »Ich möchte auch so eine Fahrt mit der Bahn machen«, bestätigte meine Frau ihre Absichten, die sie schon vor einigen Stunden kundgetan hatte. Sie sah interessiert zum Brocken hinauf, an dessen Flanke die Geräusche der zischenden Dampflok allmählich verklangen. Bald kamen wir in eine Gegend, wo zuvor ein Heer von Borkenkäfern gewütet hatte. Der Wald erinnerte an einen vergessenen Schiffsfriedhof, wo noch hier und da morsche Masten, die einst stolz ihre Segel getragen hatten, aus dem Wasser ragten. Die kahlgefressene Waldung richtete die abgenagten Baumstämme gen Himmel und flehte ihn um Gnade an. Die unschuldigen Tannen versuchten verlegen, ihre entblößte Scham mit den spärlichen Überresten der vertrockneten Zweige zu bedecken, denn ihr prächtiges Nadelgewand war ihnen mit Gewalt bis auf den letzten Fetzen Rinde vom Leibe gerissen worden. Unfähig zu fliehen standen sie bezaubernd schön in ihrer Nacktheit zur Schau gestellt am Hang, schutzlos ausgeliefert der Übermacht des Ungeziefers, und ließen mit Würde den Missbrauch über sich ergehen. »Es ist jammerschade um die Bäume. Verfluchte Schmarotzer … diese Käfer! Kann man hier nicht irgendwelche Pestizide versprühen?« Ich war zu Tränen gerührt. Der Brockenwicht verspürte wieder Kommunikationsbedarf. »Das waren nicht die Käfer. Vor etwa zehn Jahren …« »Schweig!«, flüsterte ich ihm verärgert zu, bevor meine Frau das Wort ergriff. »Aber da wachsen schon neue Bäume!«, lenkte sie meine Aufmerksamkeit auf das üppige Grün vorne auf der linken Seite des Forstweges, der auf diesem Abschnitt ein sehr angenehmes Gefälle hatte, um nicht zu sagen fast nach der Wasserwage ausgerichtet war.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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