|
Der Brockenwicht: Seite 22
Es war eine einfache, dennoch eine sehr zutreffende Definition dessen, was ich schon unbewusst festgestellt, aber noch kein passendes Wort dafür gefunden hatte. Wahrhaftig, es war ein Hexenwald. So hatte ich mir ihn schon als Kind beim Lesen von Märchenbüchern vorgestellt. Im Wanderführer stand aber nichts von einer Stelle auf dem Weg, wo die widerlichen Furien ihr Unwesen hätten treiben können! Ob wir uns wieder mal verlaufen hatten? Möglich wäre es gewesen, aber nur theoretisch, denn so weit von der Bremer Hütte hatten wir uns noch nicht entfernt und dort war ich eindeutig dem Pfeil zum Heinrich-Heine-Weg gefolgt. Moment … Hatte ich den Wegweiser auf Echtheit überprüft? Nein, natürlich nicht! Ich war ein alter Idiot! Was wenn uns die verflixten Gnome in einen Hinterhalt gelockt hatten? Doch jetzt noch einmal zu der Hütte zurückzukehren, um sich zu vergewissern, das kam nicht infrage! »Wir sollten es riskieren«, meinte ich zu meiner Frau. »Es werden wohl alle Wege hier irgendwie zum Brocken führen.« »Okay«, erklärte sie sich einverstanden und stieg als Erste in die Bresche. »Warte …«, wollte ich sie noch aufhalten, um mit ihr die Wanderordnung abzustimmen, aber es war zu spät, sie hatte bereits alles für mich entschieden. Mir wurde noch unheimlicher zumute, als ich die zwielichtige Schattenwelt des Waldes betrat. Die Reihen der unheilvollen Krieger schlossen sich hinter meinem Rücken, sobald ich die ersten drei Schritte im dämmrigen Licht auf dem Steig gemacht hatte. Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr! Bodenlose panische Angst beengte jäh meine Brust, sodass ich kaum noch atmen konnte. Angelina war verschwunden! Sie war einfach nicht da, als ich mit meinem Blick dem Weg folgte, obwohl sie nur zwei Sekunden vor mir den Wald betreten hatte. Ich hätte sie doch sehen müssen, sie hätte es noch nicht bis zu der Biegung schaffen können, die vorne durch die Tannenzweige im knappen Tageslicht schimmerte! Wo war sie also? Ich rief nach ihr in den Wald hinein, bekam aber keine Antwort, kein einziger Laut hallte zurück, es schien, dass der verhexte Wald jedes Geräusch verschluckte. Es blieb einem nichts anderes übrig, als weiter auf dem Pfad zu gehen und darauf zu hoffen, dass sie gleich wieder auftauchte.
(?)
Ich bereute schon nach einer Minute, dass ich den zweiten Wanderstock an der Bremer Hütte Geli zurückgegeben hatte, weil ich ihn im flachen Gelände nur als eine zusätzliche Last empfand. Er wäre jetzt genau richtig gewesen, um auf dem abschüssigen felsigen Steig weiterzukommen. Der Weg glich dem Bett eines ausgetrockneten Wildbachs, ihn übersäten große Granitbrocken, die aus dem bräunlichen Schlamm ragten, und jeden Schritt zur Qual machten. Armdicke Wurzeln der Tannen glitten über den Pfad wie schlangenartige Wesen, die es versuchten, mit ihren todbringenden Tentakeln jeden Stein zu umschlingen, in eine Ritze an seiner Seite einzudringen und ihn aufzuspalten. Die Bäume sahen merkwürdig aus, sie wirkten, als wären sie in der dunklen Umgebung von innen beleuchtet gewesen. Dass es frische Triebe waren oder das Licht so seltsam in die Waldschneise fiel, bezweifelte ich, das helle Grün sah sehr unnatürlich und ungesund aus. Ich hütete mich vor jeder Berührung mit den spitzen Nadeln auf den Zweigen der rätselhaften Tannen, die noch vom Regen benetzt waren, denn jede von ihnen erinnerte mich an die Injektionsnadel einer aufgezogenen Giftspritze, auf deren Ende noch ein kleines grünliches Tröpfchen der tödlichen Mixtur glitzerte. Ich schwitzte in der feuchten, stickigen Luft und strengte mich aus letzter Kraft an, während die Welt ringsherum immer bizarrer wurde. Ich bemerkte, dass die Wurzeln, die sich über den Steig schlängelten, bei Weitem nicht so harmlos waren, wie ich sie am Anfang eingeschätzt hatte. Sie erwachten zum Leben, lösten sich schwerfällig vom Fels und streckten ihre Fangarme nach mir aus. Schon zweimal hatte ich eine unangenehme Berührung an meinen Beinen gespürt und wusste, ich war verloren, wenn ich auch nur für einen Moment stehen blieb. Bald griff schon jeder giftig leuchtende Baum nach mir, der den Weg säumte. Sie erhoben sich über dem Boden und standen auf ihren Wurzeln am Wegrand wie auf Stelzen in Erwartung meiner Ankunft. Getrieben von Angst stieg ich den Berg immer weiter hinauf, während ich über das sich aufbäumende Wurzelgeflecht sprang, bis ich vor Erschöpfung bunte Kreise vor meinen Augen sah.
|
Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden
KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
Zahlen & Daten zum Werk
![]() Ihre Spende ist willkommen!Wir stellen Ihnen gerne alle Inhalte unserer Webseite kostenlos zur Verfügung. Sie können die Werke auch in der E-Book-Version jederzeit herunterladen und auf Ihren Geräten speichern. Gefallen Ihnen die Beiträge? Sie können sie alle auch weiterhin ohne Einschränkungen lesen, aber wir hätten auch nicht das Geringste dagegen, wenn Sie sich bei den Autoren und Autorinnen mit einer kleinen Zuwendung bedanken möchten. Rufen Sie ein Werk des Autors auf, an den Sie die Zuwendung senden wollen, damit Ihre Großzügigkeit ihm zugutekommt.Tragen Sie einfach den gewünschten Betrag ein und drücken Sie auf "jetzt spenden". Sie werden anschließend auf die Seite von PayPal weitergeleitet, wo Sie das Geld an uns senden können. Vielen herzlichen Dank! Diese Seite weiterempfehlen»Link an Freunde senden |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||



