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Der Brockenwicht: Seite 21
In der Tat, von der Stelle, wo sich der Heinrich-Heine-Weg wieder mit der Schotterstraße vereinte, sah ich nun auch eine Schutzhütte, die vielleicht fünfzig Meter entfernt war. Laut der im Wanderführer eingezeichneten Route lag hier ein ganz wichtiger Scheideweg. Es wimmelte auch gleich von Wegweisern, als wir die Gabelung vor der Hütte erreichten, sodass ich schon fast gänzlich jegliche Orientierung verlor. Wenn man der Beschilderung Glauben schenkte, konnte man zwei Richtungen einschlagen, um auf den Brocken zu kommen. Geradeaus kam man nach Schierke oder wahlweise zum Brocken. Es wäre augenblicklich die falsche Richtung gewesen. Höchstenfalls würden wir diese Schotterstraße, so das Schicksal es wollte, auf unserem Rückweg hinunterkommen und den Kreis an den Oberen Ilsefällen schließen. Der Heineweg bog nach rechts ab und verschwand in einem Dickicht junger Bäumchen und Sträucher, um noch einmal die Ilse zu queren und sich endgültig von ihr zu verabschieden. Der Pfad führte gegen den Uhrzeigersinn um das Brockenmassiv herum, um über die Nordflanke des stolzen Berges seine Spitze zu erreichen. Wir befanden uns am Fuße des weltberühmten Blocksbergs, er lag direkt vor uns und thronte majestätisch über der Gegend, als Krone diente ihm der unsägliche Funkmast der Deutschen Telekom, der dutzende von Kilometern weit aus allen Richtungen zu sehen war und den Berg verunstaltete. Nur eine positive Eigenschaft hatte die Konstruktion: Das Handy hatte einen guten Empfang. »Das ist ja auch eine Stempelstelle, wenn ich mich nicht irre«, sagte ich zu Geli, nachdem wir rechts abgebogen waren. »Wo?« »Da hing ein Stempelkasten an der Hütte.« »Dann gib mir den Wanderführer!«, erwiderte sie fordernd, nahm die Broschüre und lief zurück zur Hütte. Eigentlich hatten wir keine großen Ambitionen, uns bis zum stolzen Titel eines Wanderkaisers im System der Harzer Wandernadel nach oben zu stempeln, zumindest ich ganz bestimmt nicht. Wir hatten nicht einmal einen Wanderpass, der als Voraussetzung für die Teilnahme galt und wo man die Abdrücke sammeln musste. Meine Frau stempelte einfach wild im Wanderführer über den Text der entsprechenden Wandertour – überall, wo sie eine Stempelstelle fand und den Stempel in ihre Finger kriegte.
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»Zeig«, bat ich sie, die gestempelte Seite im Buch zu präsentieren, nachdem sie zu mir zurückgekehrt war. Sie pustete auf die frische Tinte. »Da«, meinte sie stolz. »Mhm«, bemerkte ich kritisch. »Ein bisschen verschmiert, aber sonst …« Ich pustete ebenfalls noch ein paarmal auf den Abdruck, klappte den Wanderführer zu und steckte ihn in die Tasche. Wir brachen auf. »Guck!« Ich zeigte im Gehen auf den Brocken. »Da wollen wir hin. Wir beginnen mit dem Aufstieg. Es gibt kein Zurück mehr!« Ich hatte ein unerklärliches Gefühl, dass sich etwas an der Umgebung geändert hatte, und erkannte den Grund erst dann, als ich nach oben sah. Graue Wolkenschleier waren aufgezogen und verdunkelten den Himmel. Wo sie plötzlich hergekommen waren, blieb mir ein Rätsel, denn noch vor einer Viertelstunde hatte die Sonne von einem blauen, wolkenlosen Himmel gestrahlt. Es war seltsam. Seltsam erschien mir auch schon von Weitem die Waldung auf dem Hügel, der vor uns lag. Der Pfad führte direkt darauf zu und stieg zunehmend an. Der Jungwuchs zu beiden Seiten wurde immer dichter, während sich auch drei bis vier Meter hohe Tannen immer öfter darunter mischten, bis sie schließlich die Oberhand gewannen. Unverhofft fanden wir uns auf einem kleinen Platz wieder, umgeben von einem dichten Tannenwald. Es war kurz vor elf Uhr, als wir den düsteren Nadelwald am Fuße des Hügels erreichten, aber ich hörte keine Vögel singen, es war gespenstisch still. Die Bäume standen dicht an dicht wie eine geschlossene Reihe von geharnischten Kriegern, die Zweige der benachbarten Tannen überlappten sich und griffen ineinander, sodass kein Durchkommen möglich war, nur an einer einzigen Stelle traten die furchteinflößenden Wächter des Waldes beiseite und gewährten Durchlass. Die Bresche, durch die der Pfad in das undurchdringliche Tannendickicht führte, glich dem Eingang in eine dunkle Welt. Ein Hauch von Unheil lag in der Luft. Geli musste auch etwas Unheimliches gespürt haben. »Es ist ein Hexenwald«, flüsterte sie leise.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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