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Der Brockenwicht: Seite 20
Der Mann im roten T-Shirt überholte mich, als wäre er auf einem Bürgersteig spazieren gegangen, und verschwand schon zehn Sekunden später hinter der Biegung. Verdammt, wie konnten die Leute nur so fit sein? Hatten Sie nichts mehr in ihrem Leben zu tun, außer jeden Tag auf den Wanderpfaden zu trainieren und um sechs Uhr morgens isotonische Getränke zu sich zu nehmen? Plötzlich erfüllte ein Aufschrei die Schlucht. Es war meine Frau! Der fitte Wanderer hatte sich vermutlich auch an sie von hinten herangeschlichen, »Hallo« gesagt und sie zu Tode erschreckt. Kein Wunder, so laut wie die Ilse rauschte, – ich hatte ihn ja auch nicht gehört. Sie war also gar nicht so weit weg. Es machte Hoffnung, obwohl ich es von ihr gar nicht gewohnt war, aber allem Anschein nach war sie doch ziemlich mitgenommen von den Wanderungen im Harz, vor allem von der Letzten, als wir uns verlaufen hatten und statt zwanzig Kilometern alle vierzig wandern mussten. Es war grausam gewesen. Ich glaubte, dass ich im Moment sogar schneller vorankam als sie und wir uns bald wiedersehen würden. Der Heinrich-Heine-Weg wurde mit jedem Schritt flacher, die Gegend auch. Ein Radfahrer bewegte sich ohne sichtbare Anstrengung bergauf auf der Schotterstraße, die jetzt dicht neben dem Fluss am anderen Ufer verlief. Wir waren heraus aus der Schlucht. Die Ilse plätscherte friedlich über die Steine hinter einer lichten Reihe menschenhoher Sträucher, es waren die Reste der üppigen Vegetation im Tal hinter uns, die Gegend war weitgehend entwaldet. Nach kurzer Zeit erreichte ich den kleinen Rastplatz an der Roten Brücke, über die der Schotterweg führte, dort wartete schon Angelina auf mich und stärkte sich unterdessen. Sie hatte aus ihrem Rucksack eine Packung Kochschinken herausgeholt und verzehrte mit großem Appetit bereits die zweite Scheibe. »Ich habe Hunger bekommen«, sagte sie, so als wenn sie sich rechtfertigen wollte. »Na dann … guten Appetit«, erwiderte ich schnaufend.
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Mir war nicht nach einer Mahlzeit zumute, ich nahm bei ihr die Flasche und begnügte mich mit ein paar Schluck Wasser, bevor ich mich dem Studium der Infotafel widmete, die diese Wegstation markierte. »Fröhlich stieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen …«, las ich den Anfang eines Auszuges aus der Harzreise, der darauf angeführt war. »Wo hast du hier die Tannen gesehen, Harry?«, wollte ich schon Heine fragen, bevor ich erkannte, dass er nichts mit der Gestaltung der Infotafel zu tun gehabt haben konnte. Vielleicht hatte sich jemand gedacht, dass man die Passage hier als Ankündigung dessen zitieren sollte, was gleich kommen würde? Oder vielleicht gab es auch Zeiten, als die Hügel links und rechts noch von dichtem Wald bedeckt gewesen waren. Heute erinnerten nur noch Baumstümpfe an den Hängen zu beiden Seiten der Roten Brücke an die einstige Pracht. Nur hier und da ragte noch ein nackter vertrockneter Fichtenstamm wie eine Kerze in den Himmel auf dem kahlgeschorenen Hügel. Der Borkenkäfer war für den Harz ohne jeden Zweifel eine große Plage. Wie auch immer, Heine konnte mir die Zusammenhänge im Augenblick nicht erklären. Nach dem Stand der Sonne am Himmel zu urteilen, musste er es gerade ziemlich eilig haben und marschierte vermutlich schnellen Schrittes irgendwo zwischen seinen himmelhohen Tannen, denn eine »Verabredung« zum Déjeuner dinatoire stand bei ihm auf dem Programm und der majestätisch anmutende Hirtenknabe servierte schon Brot und Käse auf dem ausgebreiteten Picknicktuch und warf ungeduldige Blicke auf den Pfad! »Wo ist denn jetzt diese Bremer Hütte?«, fragte ich laut. »Was …? Welche Hütte?« Geli schluckte das letzte Stückchen Schinken hinunter und drehte die Wasserflasche auf. »Hier im Wanderführer steht: Bremer Hütte bei der Roten Brücke! Ich sehe aber keine Hütte.« »Frag mich nicht so was. Ich habe keine Ahnung.« Angelina legte die Reste des Aufschnitts und die Wasserflasche wieder in ihren Rucksack. »Die Brücke ist da«, fuhr ich fort, nachdem wir uns wieder auf den Weg gemacht und die Brücke sich unseren Blicken in voller Größe geöffnet hatte, »aber ich sehe keine Hütte! Warum heißt sie denn die Rote Brücke? Eigentlich ist sie grau, so grau wie die Betonklötze, aus denen sie gebaut ist.« »Da ist deine Hütte!«, informierte mich meine Frau, die im Gegensatz zu mir nach vorne sah und nicht zurück zu der betonierten Überführung.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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