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Der Brockenwicht: Seite 16
»Hihihi.« Das widerwärtige Lachen ließ mich erstarren. Ich hatte bereits angenommen, dass die Geisterstunde vorbei war, doch hatte ich mich anscheinend zu früh gefreut. Ich sah niemanden, als ich mich umschaute. Auch die mysteriösen Schattenwesen, die ich zwischen den Steintürmchen gesehen hatte, ließen sich nicht blicken. Man hätte sie hinter dem Streich vermuten können, aber nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin. Es war zum Verzweifeln! Wer war es und was wollte er von mir? Ich hatte gerade den Entschluss gefasst, den Vorfall zu vergessen und weiterzuziehen, als ich in einiger Entfernung vorn auf dem Pfad etwas Seltsames sah. Eine merkwürdige kleine Gestalt löste sich plötzlich von einem größeren braunen Stein, auf dem sie bisher verweilt hatte und die ganze Zeit wegen ihres bräunlichen Aufzuges so gut wie unsichtbar geblieben war, schoss Hals über Kopf quer über den Pfad und sprang ins Gebüsch den Hang hinunter. Dieses Etwas konnte eine Größe von vielleicht fünfzehn Zentimetern gehabt haben und es war kein Tier gewesen, so viel stand fest. Es war auch kein schattenhafter, dem Auge ausweichender Einwohner der Türmchenstadt, der mir über den Weg gelaufen war, ich hatte die Figur mit meinem Blick verfolgen und jede Bewegung klar und deutlich sehen können. Zugegeben, die Entfernung war etwas zu groß gewesen, an Details konnte ich mich nur vage erinnern, aber ich war mir sicher, zwei Beine und zwei Arme gesehen zu haben, und einen spitzen Hut, definitiv, er war aus einem Zapfen wie schon bei dem Wicht auf dem Wegweiserpfosten im unteren Ilsetal! Was war denn das wieder für ein Zirkus? Hätten die ganzen Hexengeschichten aus dem Harz doch noch alle wahr sein können oder warum begegnete ich all den Kobolden und Wichten? Kamen gleich noch größere Exemplare und dann als Krönung die Oberhexe, die in ihrem Kessel kleine Kinder garkochte? Warum wieder ich? Aber zumindest eine Frage schien geklärt zu sein: Vermutlich war das Geschöpf, welches ich gesehen hatte, die Quelle des dreckigen Hihihi-Lachens, das mich schon seit den frühen Morgenstunden verfolgte.
(?)
Bedrückt durch das Ereignis kam ich auf eine Lichtung hinaus, einen kleinen Platz auf einem Felsvorsprung, wo schon meine Frau auf mich wartete und sich eine Gedenktafel anschaute, die an einem großen Felsbrocken angebracht war. Der Felsen sah sehr verwittert aus, eine dicke Schicht Moos bedeckte seine Flanken, aber das dunkelbraune Eisengussbild erweckte einen sehr gepflegten Eindruck, jemand machte sich offenbar die Mühe, es einmal, vielleicht auch mehrmals im Jahr frei von Moos und Dreck zu machen. Das Bild zeigte das Reliefprofil eines Mannes, den ich nicht sofort erkannt hatte. Erst als ich näher kam, konnte ich den Namen Heinrich Heine lesen. In dieser Interpretation hatte ich den Dichter noch nie gesehen. Als ich das Profil auf der Gusstafel mit allen mir bekannten Abbildungen von ihm gedanklich verglich, bekam ich sogar gewisse Zweifel, dass es sich hier um Harry handelte. Von wem stammte das Bild? Das entzog sich meiner Kenntnis. Aber wer wusste schon überhaupt genau, wie der Mann ausgesehen hatte? Lichtbilder gab es keine, die Fotografie hatte zu seiner Zeit noch in den Kinderschuhen gesteckt, und mit den Gemälden und Zeichnungen war es so eine Sache, der eine Künstler hatte ihn so gesehen und der andere ganz anders. Ich hatte manchmal ohnehin den Eindruck, dass jedes Bildnis von ihm einen anderen Mann darstellte. Doch was mir noch viel mehr imponierte als das leicht ungewöhnliche Dichterprofil auf der Tafel, waren die Zeilen die unter seinem Namen standen. Es war genau die Strophe aus dem Ilsegedicht, die mir auch schon vor zwei Stunden in den Sinn gekommen war: »Ich bin die Prinzessin Ilse …« Zufälle gab es aber auch, man glaubte es kaum! Angelina versuchte gerade, die Zeichen der gotischen Schrift zu entziffern, als ich mich neben sie stellte und die Verse laut und mit viel Gefühl deklamierte! Sie drehte sich verwundert zu mir um und meinte: »Ich habe noch nie erlebt, dass du so kunstvoll Gedichte vorträgst.« »Die dichterische Atmosphäre verpflichtet!«, antwortete ich etwas geniert wegen dem plötzlichen Gefühlsausbruch. »Nein, jetzt aber wirklich, das Tal inspiriert mich irgendwie auf eine besondere Art. Ich kann jedes einzelne Wort der Harzreise nachempfinden, die Fälle sehen genauso aus, wie Heine sie beschrieben hatte. Erstaunlich, es war schon vor zweihundert Jahren, aber die Prinzessin Ilse …« »Wie geht noch mal dein Gedicht?«, unterbrach mich Geli. »Es ist nicht mein Gedicht, sondern …« »Okay, das von deinem Heine«, verbesserte sie sich. »Ja, es ist von ihm und geht so: Ich bin die Prin…« »Nein, weiter! Die Stelle mit dem Schloss!«
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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