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Der Brockenwicht: Seite 120
»Sie sind jetzt weg hinter der Kurve«, informierte uns halblaut Leonie, die die ganze Zeit den Weg beobachtet hatte. »Okay«, meinte ich, »wir sollten jetzt langsam gehen, um hinter der Biegung nicht direkt ins offene Messer zu laufen.« Ich war nicht besonders überrascht, als ich schon bald, nachdem der Forstweg seine Richtung geändert hatte, auch persönlich das Ende der gespenstischen Kolonne vorne auf der Schotterstraße erblickte. Trotz des Gefühls der äußersten Anspannung, das mich bei dem Anblick erfasste, wirkte ein Umstand beruhigend. Es sah ganz danach aus, dass die Prozession nach links abbog. Der Wegabschnitt war nur spärlich bewaldet und es ließ sich erkennen, dass die Gnome einen Scheideweg erreicht hatten. Ihre geisterhaften Gefangenen schritten bereits nach links in Richtung des Flusses und so lag die Vermutung nahe, dass auch ihre dämonischen Begleiter ihnen folgten. Wir mussten dagegen weiterhin auf dem Weg bleiben, um nach Ilsenburg zu kommen. Abermals erstarrten wir zu steinernen Säulen und rührten uns erst, als der Oberzwerg als Letzter auf den einmündenden Weg abgebogen und hinter dem hohen Gras entlang der Straße aus unserem Sichtfeld verschwunden war. »Der Weg ist frei.« Ich atmete erleichtert auf. »Das Gesindel ist nach links zur Ilse hingewandert. Irgendwo dort am anderen Ufer sind ihre Behausungen.« »Dann nichts wie weg!«, rief Dominik und alle nahmen ihre Beine in die Hand. Der letzte Kilometer zog sich unendlich. Die schnurgerade Schotterstraße führte immer weiter, weiter und weiter durch das untere Ilsetal – bald durch einen Wald, bald über eine Wiese, bald direkt an der Ilse entlang. Aber ich hatte keinen Sinn mehr für die Schönheiten der Natur, ich wollte nur eins: Endlich auf dem Parkplatz ankommen und ins Auto einsteigen. Oder noch besser, gleich wieder aussteigen, aber möglichst schon vor unserer Ferienwohnung in Bad Harzburg. Ich war nahezu reif dafür, alles hinzuwerfen, mich in die Mitte des Weges zu stellen und verzweifelt loszubrüllen wie ein wildes Tier, als ich vorn eine Brücke bemerkte, hinter der ich die vertrauten Umrisse einer Schutzhütte erkannte. Zanthierplatz! Ja, wir waren nur wenige Dutzend Meter vom Waldhotel entfernt. Rechts tauchte der Steg auf, der zum Ilsestein führte. Ich sah flüchtig nach oben.
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»Nichts für ungut, Harry«, sagte ich leise vor mich hin, »aber bevor du fragst, keine zehn Pferde bringen mich dazu, jetzt zu deinem komischen Kreuz nach oben zu klettern, das dir angeblich das Leben gerettet hat. Es ist vorbei, wir sind da.« Einige Minuten später gingen wir aus dem Wald hinaus und blieben erschöpft auf dem Parkplatz vor dem Waldhotel stehen. Jetzt war es endgültig vorbei. »Puh«, gab Geli von sich. »Ich möchte was trinken.« »Ja, ich auch«, schloss sich Leonie ihr an. Wir nahmen die Rucksäcke ab und holten die Trinkflaschen heraus. Die Frauen tranken gierig und wir mit Dominik warteten, bis wir an der Reihe waren. »Ich hoffe aber, dass es hier keine Tierchen mehr gibt!«, alberte Dominik herum, während wir uns erholten. »Vermutlich nicht, aber wer weiß!«, sagte ich halb ernst-, halb scherzhaft, nachdem ich auch ein paar Schluck Wasser getrunken hatte. »Wo geht es denn hier eigentlich zum Bahnhof?«, wollte er wissen. »Ich gehe davon aus, dass wir jetzt auch die Handys wieder anmachen können, oder?« Ich bejahte. Ich sah inzwischen auch keine direkte Gefahr, die uns in der Stadt drohen konnte, wenn die Geräte wieder ans Netz gingen, und machte mein Telefon ebenfalls an. »Wie geht es deinem Bein?«, erkundigte sich Angelina bei Leonie, während Dominik in seinem Smartphone blätterte, um den Stadtplan von Ilsenburg zu finden. »Ach, ganz gut!«, antwortete sie fröhlich. »Ich spüre kaum noch was! Ich glaube manchmal, die Verletzung hat es nie gegeben. Merkwürdig. Ich weiß nicht …«, fügte sie leise hinzu, sodass möglichst nur Geli sie hören konnte, »diese Jungen … Ich kann mir nicht richtig vorstellen, dass ihnen etwas zustößt. Übertreibt dein Man nicht ein bisschen? Skelette hat ja nur er gesehen, ich habe normale Menschen gesehen. Auch wenn es wahr sein sollte, werden sie bestimmt wieder gesund, meine Wunde ist ja auch einfach verschwunden! Ich habe nie gedacht, dass wir hier so etwas erleben. Was war das überhaupt?«
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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