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Der Brockenwicht: Seite 119

Es war der letzte Abschnitt. Die Wanderung näherte sich ihrem Ende, das Ziel war zum Greifen nahe, wenngleich es noch ein langer, mit Gefahren verbundener Weg war. Doch hatte ich nunmehr Verbündete rund um mich, anstatt eines Haufens von Mitwandernden, vor denen ich stets etwas verheimlichen musste. Trotz ihrer geringen oder völlig fehlenden Empfindlichkeit zu übernatürlichen Erscheinungen, hielten sogar Angelina und Dominik permanent Ausschau nach verdächtigen Aktivitäten im Wald und strengten ihr Gehör an, um hinter dem donnernden Getöse der wildgewordenen Ilse ungewöhnliche Geräusche zu entdecken, – geschweige denn Leonie. Das Mädchen behielt ständig den Wanderpfad im Auge, der auf der anderen Seite des Tals verlief, ob dort nicht zufällig die drei Jungen auftauchten, dann wären auch die Zwerge nicht weit gewesen. Ihre Fähigkeit, die Opfer der Zwergübergriffe als völlig normale Menschen sehen zu können, erwies sich vorerst als eine sehr nützliche Eigenschaft, denn bis ich die schattenhaften wandelnden Gebeine in der dichten Vegetation ausgemacht hätte, hätten uns die gefräßigen Gnome schon längst bemerkt und angegriffen.

Wir bewegten uns ohne jede Übertreibung fast im Laufschritt auf der Schotterpiste. Nach dem langen Wandertag konnte ich auf dem stark abschüssigen Weg kaum noch die nötige Energie aufbringen, um der allgegenwärtigen Schwerkraft zu trotzen. Sie zog uns alle in ihren gewaltigen bodenlosen Gravitationstrichter, dessen enger Schlund sich allem Anschein nach irgendwo am Fuße der Ilsefälle befand. Die Beine hörten nicht auf mich und bewegten sich wie von alleine immer schneller und schneller, bis ich in gewissen Zeitabständen mit allen Sinnen die Gefahr spürte, dass ich im nächsten Augenblick sehr unschön hinstürzen würde, und unter größtem Kraftaufwand abbremsen musste. Aber augenscheinlich waren wir nicht die Einzigen, die sich auf diesem Abschnitt im wiederkehrenden Beschleunigungsmodus bewegten, denn zahlreiche Bremsspuren von Fahrradreifen, Schuhsohlen und Wanderstöcken übersäten ohnehin schon den Weg.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes

Das Geheimnis des vernebelten Passes

Reiseroman von Nikolaus Warkentin
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Es wurde kaum gesprochen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt: mit seiner Erschöpfung, seinem schweren Atem und seinen eigenen Gedanken. So hatte ich mir die Heinrich-Heine-Wanderung nicht vorgestellt, das musste ich im Angesicht meiner selbst ehrlich gestehen. Nein, es war mir durchaus bewusst gewesen, dass es kein Spaziergang sein würde, das meinte ich nicht. Meine Absicht hatte einzig und alleine darin bestanden, mich auf die Spuren von Heine zu begeben, seine Welt so zu erleben, wie er sie erlebt hatte, zumindest den Teil, den er in seiner Harzreise niedergeschrieben hatte. Vorgestellt hatte ich mir, dass ich am Ende mit einer Menge neuer Erkenntnisse im Gepäck fröhlich zum Parkplatz zurückkehrte und nunmehr alles darüber wusste, warum der Mann das eine oder andere so empfand und nicht anders. Es war nie mein Ziel gewesen, es mit dunklen Kräften aufzunehmen oder gar sie zu bekämpfen zum Wohle der ganzen Menschheit. Doch das Schicksal ging manchmal seltsame Wege und nun schritt ich schweren Herzens nach unten äußerst unglücklich über die neu gewonnenen Erkenntnisse und üble Erfahrungen, meine Frau und zwei ahnungslose junge Leute im Schlepptau, ohne die Gewissheit zu haben, wie diese Wanderung überhaupt ausging, vor allem aber, was ihr noch alles folgen würde. Denn daran, dass der Horrortrip auf dem Parkplatz sein Ende haben würde, glaubte ich kaum noch – zu ernst hatten die Drohungen des Brockenfürsten geklungen. Es wäre ja noch das kleinste Übel gewesen, wenn er seinen Knochenbrecher nur mir auf den Hals hetzte, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass er noch nicht die Idee aufgegeben hatte, Leoni und Dominik als Druckmittel gegen mich einzusetzen. Der Teufel wäre nicht der Teufel gewesen, wenn er nicht die Schwachstelle ausnutzte, die er entdeckt hatte. Und diese Stelle hatte ich ihm notgedrungen selbst gezeigt.

Leonie, die als Erste an den Unteren Fällen angekommen war, gab uns von Weitem ein Zeichen, wir sollten uns still verhalten.

»Ich kann vorne auf dem Weg unsere drei Jungen sehen«, flüsterte sie uns zu, als sich alle um sie versammelt hatten.

Ich konnte zwar keine Schattengestalten auf dem Forstweg entdecken, aber es musste nichts heißen, möglicherweise lag es an der Entfernung. Ich glaubte dem Mädchen. Offensichtlich hatten die Zwerge an der hölzernen Brücke, wo wir mit Angelina kurz gerastet und die Fälle bewundert hatten, nicht die Umgehung über den Wanderweg genommen, der sie direkt zur Türmchenstadt geführt hätte, sondern die Schotterstraße entlanggegangen. Ich wusste nicht, was sie vorhatten, möglicherweise nur die Abkürzung zu nehmen, aber es spielte auch keine Rolle, wir mussten hier abwarten, bis sie sich weit genug entfernt hatten. Wir verharrten eine Weile auf dem Weg, beinahe bewegungslos, um uns nicht durch den raschelnden Schotter unter unseren Füßen zu verraten, und sprachen kein Wort miteinander.

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Der Brockenwicht von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 9.860
Online Seiten: 130
PDF Downloads: 0
PDF Seiten: 298
EPUB Downloads: 0
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 495535
Druckwörter: 91448
Buchseiten: 384
Erschienen: July 2022

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