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Der Brockenwicht: Seite 102
»Nicht stehen bleiben!«, unterbrach ich sie. »Immer schön zügig weitergehen!« »Was ist denn jetzt schon wieder los? Ist wieder einer im Regenmantel hinter uns her, oder was?« Sie sah nach hinten, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. »Wie soll ich dir das erklären?«, fragte ich verloren. »Es gibt in diesem Wald so eine Art Tierchen, die dir deine Beinchen im Nu abbeißen – so schnell kannst du gar nicht gucken! Verstehst du? Wenn du stehen bleibst, sind die Beine weg!« »Nein, verstehe ich nicht.« »Pass auf«, versuchte ich es auf eine andere Weise, «du hast ja vorhin das Schmatzen der Zerbolte im Gebüsch gehört, und das sind ähnliche Kreaturen, aber eben ganz klein. Du kannst sie bestimmt nicht sehen, ich kann es nicht einmal richtig, aber hör mal genau hin. Kannst du noch etwas außer dem Schotter unter unseren Füßen und dem Regen oben in den Bäumen hören? Hör aber bitte genau hin.« Sie war ganz Ohr. Ich sah buchstäblich, wie es hinter ihrer gerunzelten Stirn arbeitete, wie angestrengt sie versuchte, auch nur das leiseste Geräusch einzufangen. Erfolglos. »Nein, ich höre nichts«, sagte sie etwas enttäuscht. »Okay«, gab ich endgültig auf. »Aber glaub mir, sie sind da. Ich glaube, sie wagen sich auch mit jeder Minute immer näher an unsere Füße. Ich denke …« »Halt! Jetzt habe ich was gehört, während du gesprochen hast«, unterbrach sie mich auf einmal. Ich sah sie verblüfft an. »Es war ein Hilferuf«, fuhr sie fort. »Ein erstickter Schrei: ›Hilfe!‹ Eine Frau hat geschrien.« »Was erzählst du da?« »Ja«, beharrte sie, »du hast geredet und nichts gehört. Der Schrei kam von dort und war sehr leise.« Ich sah mich um und konnte keine Menschenseele entdecken. Was hatte sich meine Frau eingebildet, fragte ich mich und erstarrte im nächsten Augenblick vor Schreck! Nein, ich bemerkte keine um Hilfe schreiende Frau, vielmehr stellte ich mit Entsetzen fest, dass sich die grauen Schatten offenbar für einen Angriff formierten: Vorne, hinten, links und rechts wimmelte es von diesen Wesen, der Boden glich einer brodelnden grauen Masse, nur ein kleiner Kreis von drei Metern Durchmesser um uns herum war noch frei von den Kreaturen. Aber allzu lange würde es so nicht mehr bleiben, befürchtete ich.
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»Hey, Wicht, bist du eingeschlafen?«, schrie ich laut auf. »Was?« Geli schaute mich verwundert an. »Nichts … ist mir nur so …«, stotterte ich, während die Aktivitäten der Armee der Schattenzwerge merklich zunahmen. »Ja, ja, ja!«, meldete sich endlich der Wicht. »Ich arbeite schon dran. Bei der ganzen Aufregung mit dir habe ich ganz vergessen, das Schutzfeld zu aktivieren. Es fängt gleich an zu wirken, keine Sorge!« »Keine Sorge?«, schrie ich ihn wütend an, aber diesmal lautlos. »Bist du verrückt? Willst du, dass wir alle in diesem verfluchten Wald umkommen?« »Sorry. Nur die Ruhe. Gleich ist es vorbei«, rechtfertigte sich der Schelm und räusperte sich zwischendurch nervös. In den nächsten Sekunden kam die Offensive der Zwerge wie versprochen zum Erliegen. Die grauen Wollknäuel erstarrten für einen Augenblick mitten in der Bewegung, spritzten alsdann explosionsartig auseinander in alle erdenklichen Richtungen und verkrochen sich zum Schluss hinter den Tannenzweigen entlang des Weges, von wo sie noch eine Zeit lang bösartig zurückzischten und ihre schlimmsten gnomischen Flüche in unsere Richtung flüsterten. »Es ist noch mal gutgegangen«, erklärte der Wicht, als wäre nichts gewesen. »Hör mal, du, Brockenwicht«, dachte ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, »weißt du, wie viel graue Haare ich gerade noch zusätzlich bekommen habe?« »Mach doch keinen Aufstand«, gab er zurück. »Ich hab mich ja entschuldigt. War mein Fehler! Aber der Vorfall sollte jetzt nicht deine größte Sorge sein, denke ich. Deine Frau hat nämlich recht: Es hat tatsächlich jemand um Hilfe gerufen! Ich würde mich an deiner Stelle darauf konzentrieren, da steckt noch mehr dahinter, hab ich so ein Gefühl.« Ich wusste nicht so recht, was ich mit diesem Hilferuf anfangen sollte, wo doch kein Mensch in Sicht war, der ihn von sich hätte geben können. Trotzdem, abgesehen von der jüngsten Geschichte mit den Schattenzwergen, bei der der Brockenwicht zweifellos fahrlässig gehandelt hatte, war er immer äußerst zuverlässig gewesen und hatte auch immer recht behalten, wenn er seine Warnungen ausgegeben hatte. An dem Hilferuf musste etwas dran sein.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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