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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 80
Ich wischte mit einer Serviette sorgfältig die Wassertröpfchen ab, die der Nebel auf der Tasche hinterließ, und sagte: »Ich dachte, wir könnten nach dem Essen noch ein bisschen Fotos der letzten Tage gucken. Es sind mittlerweile so viele geworden, ich weiß nicht mehr, welche, wo gemacht wurden. Es ist eine gute Abwechslung. Den ganzen Tag auf dem Zimmer zu hocken, da wird man ja verrückt bei!« »Ach so …« Geli fuhr sich mit der Hand durch das Haar, auf dem sich ebenfalls kleine Tröpfchen niedergeschlagen hatten. »Ja, wir trinken ein Bierchen und sehen uns die Bilder an!« »Willst du nicht dein Mittagsschläfchen halten?«, fragte sie mit gespielter Besorgnis. »Keine Bange! Das kommt noch. Nachher!« Dienst im Lokal hatte heute der pummelige Kellner mit dem breiten Lächeln, er brachte uns das Essen, sprach tausend Komplimente aus und verschwand wieder durch die Hintertür, als er aus dem Restaurant nebenan gerufen wurde. Wir waren die einzigen Gäste und speisten ungestört, aber nicht vergessen, denn die Bedienung tauchte jedes Mal entgegenkommend auf, wenn wir etwas benötigten. Zum Schluss servierte der Kellner noch einen Espresso für mich und einen Tee für Geli und wollte schon erneut gehen, als ein Auto vor dem Restaurant anhielt und drei Personen die Snackbar betraten. Sie unterhielten sich leise miteinander, aber ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung. Sie sprachen Russisch. »Вобщем-то здесь очень красиво в ясную погоду, но сегодня, конечно, реально туман«, sagte die etwas offiziell aussehende junge Frau mit einem Klemmbrett in der Hand. Sie bedauerte den Umstand, dass der Nebel die schöne Aussicht auf den Pass versperrte, als hätte sie sich vor dem jungen Pärchen rechtfertigen wollen wegen der misslichen Witterung. »Ничего не поделаешь.« Der Junge zeigte sich einsichtig, gegen das Wetter konnte man nur wenig was ausrichten. Er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt wie auch seine Freundin, die inzwischen am Tisch hinter meinem Rücken Platz genommen hatte. Sie studierte leicht herablassend das in Plastikfolie eingeschweißte Stück Papier mit der Liste der Speisen und Getränke, während sie es vorsichtig an einer Ecke zwischen den Fingerspitzen hielt. »Ой, а что, по-русски нету?«, erkundigte sie sich nach einer Speisekarte in russischer Sprache bei der amtlich anmutenden Frau, die offenbar das junge Paar auf ihrer Reise nach Madeira individuell vor Ort betreute, vermutlich eine Reisebüroangestellte.
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»По-русски наверно нет«, sagte sie, nachdem sie sich umgesehen hatte. »А что здесь тогда вобще можно поесть?«, wollte das Fräulein von der Betreuerin den genauen Inhalt der Karte wissen. Ich holte mein Notebook aus der Tasche und klappte es auf dem Tisch auf, während die Frau vom Reisebüro sich auch an den Tisch daneben setzte und den beiden jedes Gericht auf dem Speiseplan im Einzelnen erklärte. Der strahlende Kellner geduldete sich hinter der Theke, solange sich die Reisebegleiterin als Dolmetscherin übte und die Insulaner in Schutz bei der Frage nahm, aus welchem Grund sie dem hochnäsigen Mädchen keine Speisekarte auf Russisch zur Verfügung gestellt hatten. Allem Anschein nach lebte sie hier auf Madeira, vielleicht schon länger, denn sie wechselte mit dem Kellner einige Worte in fließendem Portugiesisch, wenn sie nähere Informationen zu irgendeinem Gericht brauchte. Vielleicht schon seit ihrer Kindheit, als ihre Eltern aus dem Sowjetreich ausgewandert waren, sobald sich eine Möglichkeit ergeben hatte. »А рыба?«, fragte das russische Mädchen verblüfft, als sie festgestellt hatte, dass die Übersetzung keine Beschreibungen von Fischgerichten enthielt. »Всё-таки сегодня черверг – рыбный день!« Sie war der Annahme, dass am Donnerstag unter allen Umständen Fisch gegessen werden musste. »Ну … рыбы здесь сегодня нет. Четверг тут не рыбный день, у католиков в пятницу. Да и то, никто особенно не придерживается«, antwortete die Frau verlegen. Sie versuchte ihren Schutzbefohlenen zu erklären, dass es in der katholisch geprägten Welt der Freitag war, an dem Fisch gegessen wurde. »Почему? Ведь четверг …«, bestand das Mädchen weiterhin auf dem Donnerstag. Nun platzte auch mir der Kragen. Sie verstand es nicht, dass ihre Vorstellungen in einem fremden Land nicht ausschlaggebend waren. Abgesehen davon, dass für mich auch der Freitag nicht ausschlaggebend dafür war, wann auf meinen Teller Fisch kam, gehörte der Fischdonnerstag nicht einmal zum Brauchtum der Christen. Er wurde in der Sowjetunion von den Bolschewiken eingeführt. Fisch am Donnerstag war staatlich verordnet! Was auch immer sie damit bezweckt hatten, am Ende sah das Ergebnis so aus: Dieser Schwachsinn hielt sich in den Köpfen der Menschen bis zum heutigen Tag. Ich hatte ernste Zweifel, dass dem Mädchen diese Hintergründe überhaupt bekannt waren. Sie war ein krasses Beispiel und ein trauriges Opfer der russischen Staatspropaganda von heute, die den Pöbel dazu animierte, auf seine eigene Proletenhaftigkeit stolz zu sein und sie als eine Art Norm zu etablieren – je primitiver und ungehobelter man auftrat, desto besser.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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