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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 78
Meinen beruflichen Pflichten war ich bereits in der Früh nachgegangen, sodass nichts im Wege stand, um meine Gitarre aus dem Koffer herauszuholen, nachdem wir vom Frühstück zurückgekehrt waren. Letztendlich hatte ich nicht einfach so die ganze Tortur auf mich genommen, sie ins Flugzeug zu schleusen, jetzt musste sie auch gespielt werden. Den ganzen Vormittag ließ ich harmonische Tonfolgen durch die Luft schwingen, während meine Gelka Bilder in der Fotokamera blätterte und Frauennachrichten im Fernsehen verfolgte. Ich spielte die Fuge in a-moll von Bach. Es gab sie wahlweise für Violine, Laute und Orgel, persönlich transkribiert vom großen Meister der Fugenkunst, der mich schon mein Leben lang mit seiner Musik begleitete, die in ihrer harmonischen Vollkommenheit und mathematischer Präzision etwas an sich hatte, was noch tiefer war als der tiefste Ozean und noch unendlicher als das Universum. Die Version für Violine galt als Vorlage, während bei dem Notensatz für Laute der Urheber der Bearbeitung nicht endgültig geklärt und das Stück in der Originaltonart g-moll nicht spielbar war. Die Orgelfassung kam aufgrund des gewaltigen Stimmumfangs nicht infrage. Meine Wahl war seinerzeit auf das Original gefallen, obwohl die Lautenversion für meine Begriffe nur unwesentlich von ihr abwich. Das Werk klang so wunderschön, wenn es von namhaften Geigern und Gitarristen vorgetragen wurde, dass ich mich vor zehn Jahren entschieden hatte, es für meine bescheidenen Möglichkeiten einzurichten. Ich hatte die Geigenpartitur nach a-moll übertragen und die Noten mit meinem eigenen Fingersatz versehen – ich besaß nicht gerade die Hände eines erstklassigen Gitarrenspielers mit langen dünnen Fingern, sodass Spielanweisungen von Musikern, die ihre Hand vom ersten bis zum zehnten Bund strecken konnten, mich möglicherweise nicht allzu weit gebracht hätten. Schon nach einigen Monaten konnte ich mich der Früchte meiner kreativen Beschäftigung erfreuen, ich konnte das Stück in voller Länge in einem vernünftigen Tempo spielen! Nur einige Takte mit Zweiunddreißigstelnoten zum Schluss, die unglaublich virtuose Figuren enthielten, machten mir noch Sorgen. Es klang so betörend schön: die Melodie floss ins Herz, jeder Ton ließ leiden und jeder neue Takt versprach Trost. Das Meisterwerk eröffnete ein kurzes prägnantes Thema, das in jedem weiteren Takt von der nächsten Stimme in einer anderen Tonhöhe nachgespielt wurde, während die Melodie immer fortschritt, ohne sich Gedanken über andere Stimmen zu machen. Die drei Stimmen der Fuge verflochten sich während der Zwischenspiele auf eine wundersame Art zu einem vom Thema abgeleiteten musikalischen Faden, um im nächsten Moment wieder auseinanderzufallen und zu verstummen, während die Hauptmelodie aus dem Hintergrund wieder hervortrat und einen neuen Durchlauf einläutete, bei dem sich die restlichen Stimmen ein weiteres Mal zu ihr nach und nach gesellten und alles wieder in einem harmonischen Durcheinander verschmolz, bis der Schlussakkord einen noch eine Zeit lang wie gelähmt dasitzen ließ, sprachlos vor Staunen.
(?)
Ich war etwas aus der Übung. Schon einige Jahre spielte ich die Fuge sehr unregelmäßig. Sie war eine meiner ersten Erfahrungen, die ich mit Werken von Johann Sebastian auf der Gitarre gemacht hatte. Es kam zwangsläufig dazu, dass man vorher eingeübte Stücke desto weniger spielte, je mehr neue Nummern ins Repertoire aufgenommen wurden. Es fehlte einfach die Zeit, um täglich das gesamte Programm zu wiederholen. Nach ein paar Wochen Auszeit konnte man sich noch gut an alle Griffe und Lagen erinnern, nach einigen Monaten vergaß man einzelne Noten, nach einem Jahr verschwanden ganze Takte aus dem motorischen Gedächtnis und nach zwei Jahren stellte man fest, dass einem nur noch einzelne kurze Passagen geläufig waren, alles war plötzlich wie ausradiert aus der Erinnerung. Nun musste ich mich gehörig anstrengen, um alle Schaltkreise im Gehirn wieder zu schließen und dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Schließlich mussten dort im Unterbewusstsein noch alle Finger- und Handbewegungen gespeichert sein und es lag an mir, sie abrufen zu können. Es gelang mir nach ungefähr einer Stunde. Eine wiederhergestellte Passage führte zur anderen, über manche Figuren musste ich nicht einmal nachdenken, sie waren alle sofort präsent, sobald ich eine vergessene Stelle auf die Reihe bekommen hatte mithilfe der Partitur, die ich schon vor der Reise vorsorglich in die Seitentasche des Gitarrenkoffers hineingesteckt hatte. Es funktionierte! Ich konnte es wieder und wiederholte das Zauberstück drei oder vier Mal hintereinander, um noch die kleinen Unebenheiten auszubessern! »Hier steht, dass man zum Pico Ruivo mit dem Taxi fahren kann!«, fügte Angelina leicht unharmonisch ihren Mezzosopran zwischen die Fugenstimmen ein. Unterdessen hatte sie sich aufs Bett hingelegt und las aufmerksam die Wegbeschreibung im Wanderführer. Ich legte die Gitarre beiseite und erwiderte: »Ja, das ist mein Plan. Zuerst müssen wir aber irgendwie mit dem Bus nach Santana kommen. Wenn wir von hier mit dem Taxi fahren, wird es bestimmt so viel kosten wie unser ganzer Urlaub!« »Und wie kommen wir nach … Santana?« »Da fragst du was! Ich weiß es nicht. Das wollte ich heute herausfinden in diesem … Arco … Wie hieß es noch mal? … Arco de São Jorge!« »Der Name stand, glaube ich, auf dem Bus.« »Genau. Da wollte ich am Busbahnhof nachsehen, wann der Bus nach Santana fährt.«
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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