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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 45

Ich war gesättigt und sah zum Fenster hinaus. Der Nebel hatte sich fast vollständig verflüchtigt und die Sicht auf den nahen Bergrücken mit dem verhängnisvollen Hang geöffnet. Ich sah das gelbe vertrocknete Gras auf dem Acker und wusste noch genau, wie es sich anfühlte. War das vielleicht eine Tortur gewesen! Ich hätte nie wieder auf meine Frau hören sollen, jedenfalls nicht wenn es um Wanderausflüge in unbekannte Gegenden auf Madeira ging.

Sie meldete sich prompt, als hätte sie meine Gedanken gehört: »Und was unternehmen wir heute?«

»Nichts. Wir gehen gleich auf unser Zimmer und lecken unsere Wunden.«

»Wann gehen wir wieder wandern?«, wollte sie nicht lockerlassen.

»Heute bestimmt nicht. Und morgen auch. Ich will mich hier nicht totwandern, sondern noch etwas vom Urlaub haben und gesund nach Hause zurückkehren. Solche Wanderungen wie gestern gefallen mir nicht. Ohne Wanderführer gehen wir nicht mehr aus dem Haus.«

Das Frühstück war gegessen, der Kaffee getrunken. Nach der deftigen Mahlzeit wurde es mir nach einem Nickerchen zumute. Es blieb nichts anderes übrig, als sich wieder aufs Zimmer zu begeben und die Beine auf dem Bett auszustrecken – etwas anderes hätten wir eher nicht tun können, ich auf jeden Fall nicht. Ich brauchte eine Auszeit, um mich gesund zu schlafen. Es war erst der vierte Tag auf Madeira, bestimmt gab es noch eine Menge zu sehen und zu entdecken. Dafür musste man aber erst mal fest auf den Beinen stehen.

* * *

Aus dem Radio im Bus nach São Vicente spielte sehr gute portugiesische Folkmusik. Sie verlieh der Fahrt eine leichte, ungezwungene Note, obwohl sich das eine oder das andere Stück schon eher traurig anhörte und vermutlich etwas über Liebesleiden oder Launen des blinden Schicksals erzählte. Die Melodien kamen mir teilweise vertraut vor. Ich erinnerte mich, sie schon einmal gehört zu haben, bei ähnlichen Umständen, allerdings nicht hier, sondern in Portugal auf dem Festland während einer organisierten Tour mit einem Reisebus. Es war wahrscheinlich die gleiche CD wie damals. Der Busfahrer hatte die Musik in den Fahrgastraum umgeleitet, sodass jeder die zauberhaften Klänge des Akkordeons aus den Lautsprechern über seinem Sitz genießen konnte. Das Fahrzeug glitt wie von Flügeln getragen die Passstraße hoch und meisterte eine Kehre nach der anderen im Takt der Musik. Wie im Zeitraffer zogen hinter dem Fenster bekannte Bilder vorbei, die schmerzliche Erinnerungen auslösten. Vor allen Dingen der Schotterweg mit dem Schild »Curral das Freiras – dreizehn Kilometer« ließ mich erschaudern und die ganze Horrorwanderung vor meinen Augen Revue passieren. Der große Linienbus war nur zu einem Drittel voll, unter allgegenwärtige Touristen hatten sich auch Einheimische gemischt, die offenbar etwas auf der Nordseite der Insel zu erledigen hatten oder vielleicht einfach ihre Verwandten besuchen wollten. Es war schließlich Wochenende. Wir konnten uns die Sitzplätze frei auswählen, nachdem der Bus pünktlich um halb zehn an der Haltestelle vor dem Hotel angehalten hatte und wir eingestiegen waren. Man hatte gute Sicht in alle Richtungen und konnte steile Hänge und tiefe Schluchten komfortabel im Sitzen bewundern, ohne sich auch nur ein klein bisschen anzustrengen. Sobald wir auf die Nordseite durch den Felsdurchbruch gefahren waren, tauchte der Bus in einen dichten Nebel ein und bewegte sich fast geräuschlos durch das grüne, feuchte Dickicht des Lorbeerwaldes zur Küste hinunter. Es ging zu den Grotten von São Vicente – Grutas, wie Portugiesen sie nannten.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Auf die Idee, die örtlichen Busverbindungen für unsere Ausflüge zu nutzen, hatte uns der Rezeptionist gebracht, den wir schon beim Einchecken kennengelernt hatten. Er sprach uns irgendwann während unserer zweitägigen Ruhepause im Hotel an und zeigte auf einen mit Filzstift geschriebenen Fahrplan auf der Infotafel. Der Plan enthielt nicht viel: Ein dicker Pfeil – er sollte offensichtlich die Fahrtrichtung kenntlich machen – zeigte auf die Überschrift São Vicente, unter der zwei Angaben mit Uhrzeiten standen, und der andere auf Ribeira Brava, wo drei Verbindungen am Tag vorgesehen waren. Man konnte also zweimal zur Nordküste und dreimal am Tag zur Südküste hinunterfahren. Wie es mit Rückfahrten aussah, ließ sich aus diesem Plan nicht erschließen.

Fahrpläne und Busfahrten auf Madeira waren schon eine Geschichte für sich. Ob aus Spargründen oder aufgrund lokaler Gewohnheiten, aber Fahrpläne bekam man in gedruckter Form nur an größeren Endstationen zu Gesicht, dort waren sie auf dem Pfosten mit dem Schild der Haltestelle montiert. Übrige Haltestellen – in der Landessprache Paragem genannt – bestanden einfach aus einem kleinen Schild an der Straße, von Wartehäuschen hatte dort noch nie einer etwas gehört. Wann und wohin von da Busse abfuhren, konnte man nur ahnen. Nicht einmal in den Tourist-Information-Büros kriegte man eine vernünftige Auskunft, wann ein Bus von einer bestimmten Paragem abfuhr. Man war sehr gut beraten, wenn man sich handschriftliche Notizen an einem Busbahnhof – oder was man als einen solchen bezeichnete – anfertigte und für spätere Ausflüge aufbewahrte. Die einheimische Bevölkerung orientierte sich dagegen erstaunlich gut in diesem wirren System, alle wussten ganz genau, welcher Bus, wann und wohin fuhr. Näherte sich ein unidentifizierter Omnibus der Haltestelle, sprangen schon alle Mitfahrwilligen auf, liefen zum Straßenrand und streckten ihren Arm aus – eine Aufforderung an den Fahrer zum Anhalten. Die körperliche Anwesenheit auf der Haltestelle, war noch kein Grund für den Busfahrer anzuhalten, es war sehr ratsam aufzuzeigen, dass man auch mitfahren wollte.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 11.974
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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