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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 38
Ich erzählte Geli meine kleine Geschichte. Sie kannte alle Hauptdarsteller dieses Stücks – wir waren alle in dieselbe Schulklasse gegangen. Meine Frau wurde nachdenklich und teilte mir etwas völlig Überraschendes mit, als wir schon nicht mehr weit von der alten Brücke waren. »Süßes kannst du haben, glaube ich.« »Wie bitte?«, wollte ich es genauer wissen. »Ja! Ich denke, in meinem Rucksack liegen noch ein paar Lutschbonbons seit unserem Flug.« »Das sagst du erst jetzt?« »Ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube schon.« Wir nahmen in aller Regel Bonbons mit ins Handgepäck, um den Ohrendruck beim Landeanflug wegzubekommen. Es wäre die Rettung gewesen, wenn im Rucksack noch welche übrig waren. Es war kurz nach sechs, als wir wieder das verlassene Haus an der Bogenbrücke zwischen den Bäumen sahen. Eine Rast lohnte und war an diesem Punkt auch geplant. Inzwischen hatte sich der Himmel geklärt, nur leichte aufgelockerte Wölkchen hingen noch an den Bergspitzen, aber die Sonne hatte sich bereits hinter der Bergkette im Westen versteckt. Es war mir bewusst, dass sie in einer halben Stunde hinter dem Horizont verschwunden gewesen wäre. Von da an konnten wir noch mit ungefähr zwei Stunden Tageslicht rechnen, vielleicht weniger – in subtropischen Breiten dunkelte es wesentlich schneller. Das war unser Zeitfenster, bevor wir zwischen Pfad und Abgrund nicht mehr hätten unterscheiden können. Die drei bis fünf Kilometer bis zur Passstraße, wie ich schätzte, wären bei normalen Umständen zu schaffen gewesen. Das Einzige, was Kummer bereitete, war: Es war ein langer, langer Anstieg bis zum Pass. Zunächst fast waagerecht, dann mit etwas mehr Gefälle und im letzten Drittel legte der Berg alle Masken ab und sprach klare Worte. »So 'n Scheiß!«, regte ich mich auf, als ich erkannte, dass wir kein Wasser aus dem Bach holen konnten. Das Flüsschen rauschte in zwei Metern Tiefe in einer engen Klamm, auf den Abhängen türmten sich große scharfkantige Felsbrocken. Nicht einmal unter der Brücke gab es eine Möglichkeit, nahe genug ans Wasser zu kommen. Das Risiko, sich noch etwas zu brechen, ging ich nicht ein. »Hier!«, sagte Angelina fröhlich. »Da sind die Bonbons!« Sie hielt die kostbaren Zuckerchen auf der ausgestreckten Handfläche. Meine Augen strahlten und ich rief voller Freude: »Ganze fünf Stück! Hey, das ist super! Das ist mal eine gute Nachricht!«
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Ohne zu zögern, griff ich danach und vergaß beinahe das Wickelpapier abzumachen, bevor ich mir eins auf die Zunge legte und es gierig lutschte. Wohltuende Süße füllte meinen Mund bis tief in den Rachen. Ich spürte geradezu, wie jedes einzelne Zuckermolekül auf der Zunge zerging, sich in seine Bestandteile auflöste und direkt ins Blut wanderte. Geli folgte meinem Beispiel. Das magisch wirkende Zuckerzeug tat ihr gut. Wir setzten uns auf eine kleine Anhöhe neben dem Haus und stillten unseren Kaloriendurst. Er war so groß, dass das erste Bonbon nur die Wirkung eines Tropfens auf den heißen Stein gezeigt hatte. Es folgte das zweite, ehe man spürte, wie Kräfte zurück in die Beine strömten. Vor allem hatte das honigsüße Mahl aber eine narkotisierende Wirkung: Man kam sich wieder groß und kräftig vor, jeder Herausforderung gewachsen, was nicht annähernd stimmen konnte. Durch den Zucker freigesetzte Glückshormone gaukelten einem nur vor, allmächtig und allwissend zu sein. In Wirklichkeit war man immer noch klein und schwach, verloren und vergessen in diesem Tal zwischen den riesigen Bergen. Wahrscheinlich war die Sonne gerade untergegangen, denn dämmriges Zwielicht hielt Einzug in die Schlucht. Es herrschte absolute Stille, kein Vogel störte die abendliche Ruhe, kein Lüftchen bewegte das Blätterdach des Waldes. Es kam mir vor, dass wir die einzigen Lebewesen im Umkreis von vielen, vielen Kilometern waren, die sich in diesem Wunderland verirrt hatten und nicht mehr hinausfanden. Wir rauchten zwei Zigaretten hintereinander. Es war das Einzige, was wir noch vorrätig hatten. Zum einen hatte ich mehr als genug mitgenommen und zum anderen waren wir den ganzen Tag kaum in der passenden körperlichen Verfassung gewesen, um noch Tabakrauch einzuatmen. Jetzt, während sich das Gehirn unter Zuckereinfluss blumige Wiesen und bunte Regenbögen in meinem Kopf malte, funktionierte es ganz gut. Die Nikotinladung hatte ihre Wirkung: Wir wurden noch etwas munterer und sorgloser, als wir ohnehin schon nach den Bonbons waren. »Hier! Ich will nicht mehr«, sagte meine Frau und reichte mir das übrig gebliebene Bonbon. »Und du?«, fragte ich, besorgt wegen ihrer Wadenkrämpfe. »Mir geht es gut. Die Krämpfe sind weg. Wir sind das letzte Stück ja nicht steil nach unten gegangen! Wievielmal kann ich dir es noch sagen? Nur wenn es nach unten geht!« Ich musste hier schließlich nicht den Gentleman spielen und nahm das Bonbon, bevor ich mich erschlagen ließ. Ein zusätzlicher Kalorienstoß hätte nicht schaden können. Wir entspannten noch ein wenig, Geli massierte sich die Waden vor der Zielgeraden und ich rauchte noch eine auf Vorrat, damit die Wirkung der neuen Dopingmixtur aus Zucker und Nikotin noch etwas anhielt.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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