Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 32»Na warte! Wenn ich dich gleich in die Finger kriege …«, ärgerte ich mich immer noch über meine Frau, hoffte aber jedes Mal unterschwellig, ihre gelbe Wanderhose hinter der nächsten Biegung zwischen den Sträuchern zu entdecken.
So eine Nummer musste man sich erst einmal einfallen lassen. Es war eine Gemeinheit, wenn Leute äußerlich Einverständnis suggerierten, hinter deinem Rücken aber ganz andere Saiten aufzogen. Wenn es nicht Geli gewesen wäre, hätte es schon gereicht, um jede Beziehung zu der Person unwiderruflich abzubrechen, denn es war eine ganz spezielle Gemeinheit. Sie hatte etwas mit dem Bruch des Vertrauens zu tun, diese Wunde war besonders schmerzhaft, sie heilte ein ganzes Leben lang nicht. Unter einem Vertrauensbruch litten verachtenswerte Übeltäter genauso qualvoll wie ehrenhafte Würdenträger. Die schlimmsten Verbrecher, die sonst nie besonders empfindlich waren und mit schweren Schlägen gut umgehen konnten, verziehen einem Mitglied ihrer verschworenen Gemeinschaft niemals einen Verrat. Vertrauensmissbrauch, wie man ihn in diesen Kreisen verstand, galt als Todsünde, trotz der sehr eigenartigen Vorstellungen von Ehre und Anstand. Nicht minder erschüttert in den Grundfesten ihres Vertrauens fühlte sich auch die Allgemeinheit, wenn eine öffentliche Autorität eine niedere Tat beging. In Sekundenschnelle begrub sie ihren guten Ruf, denn Reputation und Vertrauen gingen Hand in Hand. Alle Versuche, seinen Namen reinzuwaschen, sahen lächerlich aus. Nichts brachte so gut das wahre Naturell eines Menschen zum Ausdruck wie seine Taten. Wen konnten noch Beteuerungen eines Pfarrers überzeugen, dass alles nur ein einzelner Fehltritt gewesen wäre, wenn er sonntags Enthaltsamkeit lehrte und dienstags gerne mal bei einem Knaben aus dem Chor eine sehr private Beichte abnahm? Welche moralische Berechtigung in den Augen der Menschen hatte noch ein Politiker, sein Amt zu bekleiden, wenn sich herausstellte, dass sein Handeln in erster Linie seiner persönlichen Bereicherung diente? Vertrauen war etwas, was man nicht so leicht aufs Spiel setzten sollte, denn es konnte Jahrzehnte dauern, bis man es aufgebaut hatte, und nur Bruchteile einer Sekunde waren dafür erforderlich, damit es als Scherbenhaufen auf dem Boden lag. Es gab kein Mittel, das die Scherben wieder zusammenfügen konnte. Die gleiche Einstellung zum Vertrauensbruch zog sich durch alle Schichten der Gesellschaft, es war einfach eine menschliche Eigenschaft, der Grundstein jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Jeder erwartete Treue und Gefolgschaft, wenn er einen anderen seines Vertrauens würdigte. Man offenbarte ihm schließlich seine wahre Natur, oder zumindest einen bedeutenden, sehr persönlichen und intimen Teil davon. Dementsprechend groß war die Enttäuschung, die mit einem Vertrauensbruch einherging, wenn man sich irrte. Man urteilte oft darüber, ob jemand vertrauenswürdig war, nach den äußerlichen Merkmalen einer Person, nach all dem, was sie sagte oder was sie vorgab, tun zu wollen. Erst nach einigen bitteren Erfahrungen, achtete man mehr darauf, wie der Mensch in bestimmten Situationen handelte, denn nur das war die Spiegelung dessen, wer er in Wirklichkeit war – ein edler Mann oder ein erbärmlicher Schuft. Zugegeben, ich hatte auch bei dieser Methode mehrmals einem Irrtum bei der Auswahl von Vertrauten unterlegen, was zwangsweise dazu geführt hatte, dass ich manchmal Jahre brauchte, um einzuschätzen, ob ich einem Menschen in vollem Umfang trauen konnte oder nicht. Nur während eines längeren Zeitabschnitts bestand die Möglichkeit, eine Person aus verschiedensten Blickwinkeln in unterschiedlichsten Situationen zu beobachten, bis ein Ereignis eintrat, bei dem die Entscheidung wie von selbst fiel. Es war zuweilen gar nicht so einfach zu entscheiden, man fragte sich, ob die Verbindungen, die seit Jahren Bestand hatten, von jetzt auf gleich zerrissen werden sollten. »Es war nur ein kleines Missverständnis, ein geringfügiger Ausrutscher«, redete man sich ein. »In jeder anderen Hinsicht hat es bis jetzt doch einwandfrei funktioniert!« Man erfand immer weitere Ausreden, warum man nicht der einzig richtigen logischen Konsequenz folgte, sondern manchmal Gnade vor Recht ergehen ließ. Nichtsdestotrotz konnte man einen Vertrauensbruch nicht nach der Schwere der Schuld einstufen. Entweder gab es ihn oder es gab ihn nicht. Noch aussichtsloser schien die Hoffnung darauf zu sein, dass ein Bruch des Vertrauens durch eine Person nur eine einmalige Verfehlung gewesen war und er in der Zukunft nie wieder vorkam, schließlich änderten sich doch die Menschen zum Besseren. Die Erfahrung sagte mir etwas anderes: Tempora mutantur et nos mutamur in illis – das stimmte so nicht, zumindest nicht in Bezug auf Vertrauen. Wer einmal die Wahrheit verschwiegen hatte, der hätte auch zum zweiten Mal gelogen. Einen Menschen, der einmal Geld unterschlagen hatte, hätte kaum etwas davon abgehalten, es früher oder später zu wiederholen. Und wenn einer heimlich vorhatte, dich zu verraten, hätte er irgendwann versucht, seinen Plan zu verwirklichen – die Abgründe der menschlichen Seele waren tief. Meiner Meinung nach formte sich eine Persönlichkeit endgültig bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr, vielleicht auch schon früher, bestimmt schon früher. Innere Werte bildeten sich während der prägenden Jahre der Jugend, sie waren nicht mehr änderbar. Im späteren Leben handelte der Mensch immer entsprechend diesem Wertesystem. Beging er unter dem Druck der Umstände eine niedere Tat, so war die Saat des Übels auch schon davor ein Teil von ihm gewesen, sie hatte aber bisher noch keine Gelegenheit zum Keimen gefunden. So lautete meine Theorie. Ich konnte sie aber nicht auf Geli anwenden. Auf sie bestimmt nicht.