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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 33

Der Wald hatte unterdessen Platz für eine Blumenwiese gemacht, die mich zu besseren Zeiten durch ihre Blütenvielfalt überzeugt hätte. Vor allem Madeira-Natternköpfe blühten ausgesprochen schön und verteilten ihre fliederfarbene Pracht über den ganzen Hang. Besonders lange Stiele ließen einzelne Blumen über den Pfad herunterhängen. Sie versperrten den Weg und schienen mich fragen zu wollen: »Sind wir nicht schön? Guck dir uns an!« Brombeerzweige wurde ich heute wahrscheinlich nicht mehr los. Sie waren meine treuen Begleiter und ärgerten pausenlos meine Unterschenkel, allerdings spürte ich keinen Schmerz mehr, wenn die Dornen alte verkrustete Kratzer wieder aufrissen. Es war vielleicht eine Art körperliche Schutzfunktion. Vermutlich hatte ich vor Kurzem die Baumgrenze passiert und der Königspfad fand jetzt in dieser Alpenwiesenlandschaft seinen weiteren Verlauf. Es ließ mich hoffen, dass ich mehr freie Sicht bekam, um mich besser orientieren zu können. Ich konnte aber jetzt schon zu dem kleinen Aussichtsplatz hinüberblicken, der auf der anderen Seite der Schlucht auf dem Bergvorsprung lag. Von dort hatte ich die Wanderer in bunten Wanderjacken gesehen und musste mich jetzt etwa auf derselben Position am Berg befinden. Ich erinnerte mich, dass es von der Stelle nicht mehr weit bis zum Bergrücken war, allerdings konnte ich von hier den Scheitel nicht sehen, obwohl die Umgebung durch mehrere Merkmale einen Übergang zu einer Hochebene ankündigte: Die steile mit Wasser bedeckte Felswand hatte sich vom Gehweg zurückgezogen und ich musste nicht mehr den Dreck mit meinen Füßen stampfen, der Trampelpfad wurde immer flacher, obwohl er noch mehr als genug Gefälle hatte, um einen angeschlagenen Wanderer zur Strecke zu bringen, und es war heller geworden! Durch Lücken in der Wolkendecke lächelte der blaue Himmel. Die dicken Schwaden blieben über dem Gipfel, über dem Pass hätte es auch sonnig sein können. Ich schleppte mich weiter wie im Traum. Taumelig vor Erschöpfung setzte ich einen Fuß vor den anderen. Mit maschineller Gleichmäßigkeit bewegte ich mich vorwärts und achtete nicht mehr auf die Umgebung, meine Kraft reichte nur dafür, mir vor die Füße zu schauen, um auf dem Pfad zu bleiben. Ich hielt an, um Kräfte für das letzte Stück vor dem Pass zu sammeln.

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Madeira-Natternkopf am Königspfad
Madeira-Natternkopf am Königspfad

Ich sah mich um, nachdem ich meine Sinne wiedererlangt hatte, und stellte fest, dass ich praktisch schon fast am Ziel war! Die Kuppe des Bergrückens lag jetzt vor mir in zweihundert Metern Entfernung. Oben gab es viel Platz, der Grat war ziemlich breit und wenn auch nicht absolut eben, dann nur leicht hügelig. Dahinter erkannte man in beachtlicher Entfernung weitere Bergketten. Hinter dem Rücken musste ein riesiges Tal liegen – Curral das Freiras. Aber noch war ich nicht dort, der Anfang der Schlucht, die von hier zum Talkessel von Ribeira Brava zurückführte, lag noch dazwischen. Es war kein tiefer Abgrund, sondern eine flache Senke, die mit trockenem Gras und Gestrüpp zugewachsen war. Aber sie war da und der Pfad machte einen großen Bogen um sie herum. Es gab Gott sei Dank kein Gefälle mehr. Ich musste jetzt links halten auf dem Königspfad, der wieder an der riesigen Felswand des Gipfels vorbeiführte – es war jetzt allerdings die Ostflanke. Den ganzen Tag hatten wir eigentlich nichts anderes gemacht, als um den dummen Pico Grande drum herum zu wandern, von der Nordwestseite zu der Ostseite. Ich sah plötzlich wieder die orangenen Westen der zwei Wanderer, sie entfernten sich auf dem Grat schnellen Schrittes in Richtung Küste – dorthin führte der Königspfad. Wo sie inzwischen gerastet hatten und warum sie nicht schon viel, viel weiter gekommen waren, interessierte mich in diesem Moment am wenigsten.

Mein Blick wanderte nach links entlang des Pfades zu der Felswand, um die Aussichten auf eine neue Schlammschlacht mit dem Berg abzuschätzen, und sie tauchte auf einmal wie aus dem Nichts auf dem Pfad auf. Geli war einfach wieder da! Sie stand auf dem Weg neben einem vorstehenden Felsen in der Kurve und schaute zu mir herüber. Sie wartete offensichtlich auf mich. Wie lieb von ihr! Ich suchte mühsam nach den zornigen Worten, die ich schon den ganzen Weg in meinem Kopf gesammelt hatte, fand aber keine. Der Zorn, den ich noch vor einer Stunde in mir getragen hatte, hatte sich verflüchtigt. Um ehrlich zu sein, war ich unendlich froh darüber, sie nach zwei Stunden wiederzusehen. Ich näherte mich und schaute sie mit einem müden, vorwurfsvollen Blick an. Sie schaute zurück und ich sah in ihren Augen die Einsicht, dass sie Unrecht getan hatte. Mehr war nicht erforderlich.

»Komm, gehen wir noch das letzte Stück und dann rasten wir dort am Pass. Ich verdurste. Hast du noch Wasser?«, fragte ich in der Hoffnung, dass wir noch etwas in der Flasche übrig hatten.

»Ich habe nichts getrunken. Das Wasser ist noch da.«

Wir gingen langsam um die Senke. An der Steilwand des Gipfels gab es hier keinen Sumpf, der Weg war erstaunlich trocken, so trocken, dass die Schuhe im Staub versanken. Er hatte die gleiche rötliche Farbe wie der Schlamm weiter unten und passte hervorragend zu der angetrockneten Kruste auf meinen Schuhen.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 11.973
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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