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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 31
Von oben nieselte es immer wieder kurz. Ich wanderte seit einer Stunde knapp unterhalb einer dichten Wolke, die sich am Gipfel festgesetzt hatte. Kein einziger Sonnenstrahl kam durch, es blieb aber trotzdem warm. Die feinen Tröpfchen machten mir nichts aus und spielten schon lange keine Rolle mehr, denn meine Sachen waren von Schweiß getränkt. Lange Pausen konnte ich mir nicht leisten, ich musste sie eingeholt oder wenigstens den Abstand verringert haben, noch bevor sie den Pass erreichte. Ich kannte sie schon lange genug, um zu wissen, sie hätte, ohne zu zögern, auch über den Pass hinausschießen können! Die Aussicht auf den Curral das Freiras vom Pass hätte meine Frau dermaßen faszinieren können, dass sie sich bestimmt für einen Abstecher nach unten entschieden hätte, felsenfest davon überzeugt, dass es überhaupt kein Problem gewesen wäre, dort einen Taxistand zu finden. Ob sie auch heil da unten angekommen wäre, hätte sie in dem Moment nicht sonderlich interessiert. Manchmal entzog sich ihr das Verständnis der Tragweite ihres Handelns. Sie agierte meistens impulsiv, ohne über mögliche Folgen nachzudenken und realisierte erst spät, dass manch eine Entscheidung ganz andere Konsequenzen hatte, als ursprünglich beabsichtigt gewesen waren. Gegenseitige Beziehungen von Ursache und Wirkung blieben ihr größtenteils verborgen. Aber ich liebte sie so, wie sie war – auf Gedeih und Verderb. Ich musste alles Mögliche und Unmögliche tun, um sie von unüberlegten Schritten abzuhalten. Ich musste los. Ich war schon eine gute Viertelstunde nach der Rast gewandert, als ich plötzlich vor einer felsigen Anhöhe stand, die von oben in Kaskaden bis vor meine Füße herabfiel. Ich hatte etwa zehn Meter nach oben zu klettern. Jede Stufe war ein riesiger Felsblock, der mir stellenweise bis zu Gürtellinie reichte. Es gab keine Möglichkeit, diese »Stufen Goliaths« zu umgehen. Rechts ging es in den Abgrund und links versperrte der Berg den Weg. »Heiliger Mist!«, schimpfte ich wieder. »Ist es noch nicht genug, dass man kilometerweit diesen elenden Pfad bergauf wandert? Muss jetzt, verflixt noch mal, auch Bergklettern geübt werden?« Ich schaute mich verzweifelt um und dachte: »Okay, aber irgendwie schafften es doch alle anderen vor mir. Sie zogen sich doch nicht an den Haaren hoch!« Es dauerte noch ein Weilchen, bis ich die Lösung fand, nachdem ich mir mit dem Ärmel den Schweiß aus den Augen gewischt hatte. An jeder Stufe war aus dem herum liegenden Geröll ein wackeliges Mäuerchen hochgezogen, das als Treppe zu der jeweils höheren Ebene genutzt werden konnte.
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Das Treppensteigen brachte mich erneut um den Verstand. Nachdem ich den letzten Absatz erklommen hatte, atmete ich schwer mit dem weit aufgerissenen Mund und schnappte nach Luft wie ein aus dem See gezogener Fisch. Mit rotierenden Augen blickte ich wild in die Gegend und war ganz verwirrt, als auf einmal zwei Spaziergänger vor mir standen. »Hä …?«, fragte ich mich verblüfft. Es waren Spaziergänger! Keine Wanderer! Mit meinem getrübten Blick erkannte ich, dass der Herr etwas Ähnliches wie ein Jackett anhatte und die Dame irgendeine bunte Bluse trug. Ich glaubte, dass sie mich etwas besorgt anschauten und fragen wollten, ob es mir noch gut ging. Da ich offenbar nicht besonders zurechnungsfähig aussah, stöckelte die Frau mit ihren Schühchen weiter zur ersten Kaskade und sagte etwas ihrem Begleiter in einer mir unbekannten Sprache. Er hielt ihr das Händchen, als sie das Mäuerchen zu der tiefer gelegenen Stufe nahm. »Klick – klack, klick – klack«, machten ihre Schuhe auf dem felsigen Boden. Ich war perplex … Wie, um Gottes willen? Wie waren sie in diese Höhe gekommen, in Lackschuhen und frisch gestylt? Hatten sie sich vom Hubschrauber abgeseilt? Fassungslos verfolgte ich sie mit meinem Blick, bis sie unten im grünen Durcheinander der Adlerfarne verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. War das alles real gewesen oder spielte mir der Elfenkönig einen neuen Streich? Der Pfad drehte langsam nach rechts. Der Wald war noch ein klein wenig dichter geworden, hatte sich aber auf die linke Seite verlagert und bedeckte den Hang bis zum Sockel der Felswand, die fünfzig Meter über meinem Kopf gen Himmel ragte und sich danach in den Nebelschwaden auflöste. Ich musste den Fuß des Gipfels erreicht haben. Rechts öffnete sich eine freie Sicht entlang des Tals. Ich war am Kopf der Schlucht unter dem Gipfel. Entgegen meinen früheren Befürchtungen war der Pfad entlang der Steilwand weder eng noch ausgesetzt, er führte einfach nach wie vor kontinuierlich nach oben in einem gleichbleibenden Winkel. Ein anderes Problem machte mir allerdings das Leben schwer! Feuchter Nebel, der die Bergspitze umgab, schlug sich auf dem Gipfel in winzigen Tautröpfchen nieder, die zu größeren Tropfen verschmolzen, sich dann in Mulden sammelten und kleine Rinnsale bildeten oder einfach durch das Gestein sickerten. Die Felswand war mit einem dünnen Film aus fließendem Wasser bedeckt. Es plätscherte und tropfte überall. Auf dem Weg hatten sich riesige Pfützen gebildet, die den Pfad in einen Sumpf verwandelten. Kleine Bächlein querten meine Marschroute, sie suchten den Anfang der Schlucht, um dann ungehindert talwärts zu gluckern. Die nötige Kraft, um über die Pfützen von Stein zu Stein zu springen, fehlte mir. Absolut gleichgültig zum Schicksal meiner Schuhe wanderte ich teilnahmslos durch die trüben Lachen und versank knöcheltief im rötlichen Schlamm. Es war eine ziemlich glitschige Angelegenheit, man musste unablässig aufpassen, dass man nicht ausrutschte und sich noch irgendwo zu allem Überfluss den Hals brach.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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