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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 16

Die Stimmen im Tunnel hinter uns wurden lauter, offenbar hatte es auch das junge Paar geschafft, den Ausgang zu erreichen. Die jungen Leute kamen heraus, grüßten uns mit einem Kopfnicken und sahen sich um.

»Glückauf!«, scherzte ich ihnen entgegen.

Sie lächelten und der Junge fragte etwas verlegen: »Was ist es hier? Wo sind wir eigentlich?«

»Keine Ahnung!«, antwortete ich. »Wir sind erst seit gestern hier. Ich habe eine Karte, aber man kann darauf nicht erkennen, wohin die Levada führt.«

Er warf einen flüchtigen Blick auf meinen ausgebreiteten Wanderplan, aber ich hatte den Eindruck, dass der Inhalt ihn nicht besonders interessierte. Vermutlich war es für den jungen Mann nur ein Höflichkeitsgespräch, um nicht einfach dumm nebeneinander zu stehen, denn nach meiner Erfahrung unterhielten sich Jugendliche nicht besonders gern mit älteren Herrschaften. Ich bestand nicht auf einer weiteren Unterhaltung und zeigte stattdessen Angelina unsere gegenwärtige Position auf der Karte.

Das Problem der Kommunikation zwischen verschiedenen Generationen beschäftigte mich schon seit vielen Jahren. Ich war mir absolut sicher, dass sich ein lebhaftes Gespräch entwickelt hätte, wenn an meiner Stelle jemand im Alter von dreiundzwanzig Jahren gewesen wäre. Warum? Der junge Mann hatte mich noch nie zuvor gesehen, weder waren ihm meine Ansichten zu verschiedenen Dingen bekannt noch hatte ich ihm auch nur den geringsten Anlass gegeben, meine edlen Absichten anzuzweifeln. Wir hätten uns über Levadas, Madeirawein, Wetter, Natur in einem zu nichts verpflichtenden Smalltalk unterhalten können. Aber nein! Es funktionierte nicht. Bekam man mit den Jahren schon so einen Gesichtsausdruck, der die junge Generation abschreckte? Oder war es der ewige Nihilismus der Jugend, der grundsätzlich alle früheren Erfahrungen verneinte, mitsamt den Individuen, die versuchten, ihre Erkenntnisse ihr in einer geordneten Form nahezubringen? Ich gab dem Jungen keine Schuld, vielleicht war er ja einfach weniger kontaktfreudig. Doch mir selbst war es mit zwanzig nicht viel anders ergangen. Jede Lebensweisheit, die nicht in meiner Altersgruppe ihren Ursprung hatte, wurde verleugnet, wie vernünftig auch immer sie klingen mochte. Die Musik war falsch, die Kleidung zum Kotzen, die Haare zu kurz. Mit Vertretern der vorangegangenen Werteordnung gab es nichts zu besprechen, auch nicht das Wetter. Dagegen kam man mit gleichaltrigen Zeitgenossen immer gerne ins Gespräch, obwohl sie meistens nur Unsinn redeten. Man akzeptierte und tolerierte ihre leichte Dümmlichkeit. Wie groß war doch meine Verwunderung, als ich mit fünfundzwanzig feststellte, dass indessen eine neue Generation von Nihilisten herangewachsen war und jetzt schon meine Werte, meine Musik und meine Kleidung der Verleugnung unterworfen wurden. Doppelte Verleugnung! War sie nicht schon vor langer, langer Zeit ein Bestandteil der Hegelschen Theorie der Entwicklung des »Begriffs« in der Philosophie des Geistes gewesen, obgleich er sie als Negation bezeichnet hatte? Der Mann und seine Nachfolger hatten zumindest in dem Punkt recht, dass offensichtlich jede Generation die vorherige auf die eine oder die andere Weise negieren und sich absondern musste, damit die Menschen in ihrer Gesamtheit zu qualitativ neuen Eigenschaften kamen. Mit anderen Worten: Hätte sich der junge Mann mit mir auf ein Gespräch eingelassen, wäre es ziemlich schlecht um die Zukunft der Menschheit bestellt gewesen!

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Der Brockenwicht

Der Brockenwicht

Novelle von Nikolaus Warkentin
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Ob richtig oder falsch, meine philosophische Kontemplation musste unterbrochen werden, zumal das Pärchen Anstalten machte, den Rückweg antreten zu wollen. Wir verabschiedeten uns und blieben mit Geli auf dem kleinen Platz vor dem Tunnel allein. Vor uns lag der sich schlängelnde Weg durch das Land der Hobbits!

»Guck! Da, da … Da! Da vorne läuft ein Gartenzwerg!«, witzelte ich herum mit ernstem Gesicht, um Angelina ein wenig zu veräppeln.

Sie war manchmal ganz einfach von Dingen zu überzeugen, die es gar nicht gab, womöglich, weil sie sich selbst diese Dinge sehr real vorstellen konnte.

»Was? Wo?«, fragte sie aufgeregt, bewegte ihre Hand zum Fotoapparat und merkte im selben Augenblick meinen kleinen Schwindel. »Du bist ein Narr! Weißt du? Du bist ein richtiger Narr!«

Ich setzte mich als Erster in Bewegung, um die Marschformation zu bilden. Der Pfad neben der Rinne war nicht befestigt, es fehlte die gewohnte betonierte Schulter, aber gut festgetrampelt durch viele Wanderer, die Feen und Zwerge vor ihre Kameras bekommen wollten. Nur an einigen wenigen Stellen, wo der Kanal wieder mal am Rande einer der bodenlosen Schluchten verlief, säumte ein dicker Betonblock die gefährliche Seite der Levada. Diese Stellen waren teilweise auch mit einem Drahtzaun gesichert, es war schließlich kein Scherz für nicht schwindelfreie Menschen, so einen Abschnitt zu überwinden. Hier und da plätscherten kleine Rinnsale von oben den Hang hinab und mündeten in dem künstlichen Wasserlauf. Dies war auch der eigentliche Sinn und Zweck der Levadas. Wenn ich mich noch richtig an die Ausführungen im Reiseführer erinnerte, hatten die Madeirenser schon vor fünfhundert Jahren damit angefangen, Wasser von der Nordseite, wo es im Überfluss vorhanden war, auf die dürre Südseite durch Kanäle zu leiten. Was es für eine Schinderei gewesen sein musste, konnte ich mir bildhaft vorstellen, als ich mir überlegte, wie viel Kraft erforderlich gewesen wäre, um nur einen Meter von dem künstlichen Felsvorsprung im Hang zu erschaffen, über den sich der eigentliche Kanal zog! Und es waren rund zweitausend Kilometer auf der ganzen Insel, so lang war das gesamte Levadanetz. Alle Levadas hatten die gleiche Funktionsweise. Die kühle Nordströmung des Ozeans brachte mit dem Wind Feuchtigkeit, die über den Gipfeln des Ost-West-Grats der Insel zu Wolken kondensierte. Diese wälzten sich ihrerseits über den Bergrücken auf die Südseite, blieben aber meistens an den Spitzen des Zentralmassivs hängen, weil die warme Luft des Südens, die auf der anderen Seite die Hänge hinaufströmte, sie daran hinderte, die Wetterscheide zu überqueren. Die regenträchtigen Schwaden hatten keine andere Wahl, sie mussten oben ihre Schleusen öffnen! Das Wasser schnellte den Hang hinunter zurück zur Küste. Baute man aber quer zum Hang eine Rinne, wurde das kostbare Nass aufgefangen und konnte abgeleitet werden. Wer hatte noch einmal gesagt, dass alles Geniale einfach war? Ihm hätte ich zugestimmt. Neben dem wirtschaftlichen Nutzen besaßen die Levadas noch eine ungemein praktische Eigenschaft: Sie eigneten sich perfekt für Wanderungen über steile Bergflanken und schwindelerregende Schluchten, ohne dass man auch nur einen Meter Höhenunterschied überwinden musste. Der Pfad verlief immer nahezu waagerecht, die Gefahr, sich auf einer Felswand den Hals zu brechen, war verschwindend gering. Die Betonschulter, die vor allem an engen und abschüssigen Stellen auf der dem Abgrund zugewandten Seite der Rinne auftauchte, schützte den Felsvorsprung vor dem Abbröckeln und war ursprünglich in erster Linie als Dienstweg zur Ausführung von Wartungsarbeiten gedacht gewesen. Dass Touristen daran ihre Freude fanden, hatte sich erst im Nachhinein eingestellt.

 

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 11.970
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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