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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 143

Die Fluggäste erwachten aus der Take-Off-Starre in ihren Sitzen und schnallten sich nach und nach ab, sobald der Silbervogel die Wolkendecke durchbrochen hatte und es in der Kabine wieder hell geworden war. Mich amüsierte es jedes Mal, wie sich die Passagiere in diesem Moment aus sorglosen Urlaubern in gesetztestreue Bürger verwandelten. Eine Gruppe angetrunkener Frauen, die allem Anschein nach auf der Insel ihre Abenteuerlust gestillt und sich vorhin am Boardingschalter noch so aufgeführt hatte, als wären sie alle noch auf ihrer Abschiedsparty gewesen, wurde plötzlich nüchtern – zumindest der Teil davon, der noch nicht zusammengesackt in den Sitzen seinen Rausch ausschlief. Aus dem Halligalli-Strandurlauber, der noch vor einer Stunde in einem Paar ausgefranster Badeshorts auf dem Flughafen umhergelaufen war, schälte sich ein vornehmer Herr heraus, der seine Frau danach fragte, wo denn seine Stoffhose war, die er gleich anziehen wollte. Unterschwellig spürten sie auch alle, dass der point of no-return überschritten war und kehrten wieder zu dem gewohnten äußeren Erscheinungsbild zurück, das sie in ihrem Alltag von sich zu vermitteln pflegten.

Doch mich wollte die Insel nicht loslassen. Mit meinen Gedanken war ich immer noch auf dem Pico-Ruivo-Pfad, während ich schon nach etwa einer Stunde Flugzeit meinen Kopf gegen die Fensterscheibe lehnte und die rätselhaften Muster in der Wolkendecke unter uns betrachtete. Die Spitze der Tragfläche flatterte ab und zu leicht im Gegenwind, das monotone Geräusch der heulenden Turbinen machte schläfrig. Es war unglaublich schade, dass wir den schönsten Teil des Mittelgrats wegen dem Nebel nicht gesehen hatten. Im Nachhinein konnte ich mir auch nicht verzeihen, dass wir gänzlich unvorbereitet auf den Königspfad gegangen waren. Den Pico Grande zu erklimmen, wäre ein absolutes Muss gewesen! Stattdessen hatte mich die Wanderung fast um den Verstand gebracht und ich war noch nicht einmal annähernd auf dem Weg zum Gipfel gewesen, ihn hatte ich mir dann aus weiter Ferne anschauen dürfen. Wenn ich es mir recht überlegte, hatten wir uns den ganzen Urlaub nur um den Pass von Encumeada herum bewegt. Es stimmte schon, dass die Berge gewaltig groß waren und objektiv betrachtet nicht in zwei Wochen zu schaffen gewesen wären, doch der beispiellose Krafteinsatz, der zum Bewandern der steilen Hänge während der Zeit erforderlich gewesen war, ließ einen glauben, dass wir auf keinen Fall weniger als dreiviertel des Eilands schon in allen Einzelheiten kennen mussten. Aber wenn man sich den Umkreis, in dem unsere Aktivitäten stattgefunden hatten, von oben anschaute, war es ein kleiner Klacks auf der Inselkarte. Der komplette westliche Teil trug die imaginäre Überschrift »Terra Incognita« – den Versuch, auf der Levada do Norte in westliche Richtung vorzudringen, konnte man nicht im Ernst gelten lassen. Und der Osten? Abgesehen von Funchal, wo waren wir eigentlich noch gewesen? Ja, wir hatten einen Taxiausflug nach Santana gemacht. Nein, anders: Wir waren durch Santana gefahren, um zum Pfad zu gelangen, der uns abermals zum vernebelten Pass hinuntergeführt hatte. Also zählte es auch nicht hundertprozentig. Es war effektiv nur ein schmaler Streifen im mittleren Inselverlauf: Von Ribeira Brava über den Pass Encumeada nach São Vicente. Das war der Bereich, den wir wirklich erkundet hatten.

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn mir noch einer hätte erklären können, woher ich so viele Einzelheiten von Orten kannte, wo ich noch nie gewesen war. Vom nächtlichen Flug her? Unsinn. Es hatte keinen Flug gegeben! Darüber konnte man jetzt nur lachen. Hatte ich die Informationen unbewusst in irgendeinem Reiseführer aufgeschnappt oder in einer Dokumentation flüchtig gesehen? Vielleicht, aber ich konnte mich nicht dessen entsinnen. Irgendein Geheimnis barg der vernebelte Pass und ich wollte dahinterkommen. Doch ich flog weg von der Insel und das Geheimnis blieb dort am Pass von Encumeada, versteckt zwischen mächtigen Gipfeln, gelöst im tosenden Wasser der Wildbäche, zerstreut zwischen den Grashalmen der alpinen Wiesen der Hochebene. Um es zu lüften, musste man schon vor Ort sein. Ich schwor mir, eines Tages die Insel noch einmal zu besuchen, um es mit dem allgewaltigen Erlkönig aufzunehmen. Ich musste ihn besiegen. Auf jeden Fall! Ich fing unvermittelt an, törichte Pläne zu schmieden, wie ich den Elfenanführer finden und zur Rede stellen konnte, und blieb dabei, dass eine Wanderung vom Encumeadapass über Paul da Serra nach unten zur Westküste wohl eine der besten Möglichkeiten gewesen wäre. Man schlug gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Westen der Insel wurde erkundet, und der Erlkönig, er wäre in dieser einsamen Gegend schon von alleine aufgetaucht.

Unerwartet bekam unser Luftschiff Schlagseite. Ich beobachtete, wie sich der linke Flügel hinter dem Fenster auf einmal senkte und seine Spitze nunmehr nicht auf den Horizont, sondern nach unten, auf die Wolken ausgerichtet war. Es konnte nur eins bedeuten: Wir änderten die Flugrichtung. Ich grübelte eine Zeit lang nach, konnte aber keinen Grund für die Entscheidung des Kapitäns finden. Zwischen Madeira und der Iberischen Halbinsel gab es nur den grenzenlosen Ozean und der Pilot hätte auf dem eingeschlagenen Kurs bleiben sollen, um sie auf kürzestem Wege zu erreichen. Freilich war ich nicht der Kapitän und saß nicht im Cockpit, um alle Einzelheiten zu wissen. Möglich wäre es gewesen, dass er nur ein Gewitter umfliegen wollte, das im weiteren Verlauf der Flugroute aufgezogen war. Doch an einer Schlechtwetterfront konnte es nicht liegen, viel zu lange dauerte das Manöver, um die Hauptflugrichtung noch beibehalten zu können. Das Flugzeug hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht, stellte ich fest, als die Tragfläche wieder nach oben, in die normale Flugposition schnellte. Merkwürdigerweise konnte ich im Flieger noch nie so richtig einen Wechsel der Flugrichtung sinnlich wahrnehmen, obwohl sich das Flugzeug in der Luft fast auf die Seite legte. In der Kabine war oben immer noch da, wo über dem Sitz die Leselampen angebracht waren, und unten dort, wo die Füße ununterbrochen nach einer bequemen Position in dem engen Raum zwischen den Sitzreihen suchten. Nichts störte den Gleichgewichtssinn. Ob es an der Zentrifugalkraft lag? Schon möglich. Ich orientierte mich immer nach der Position der Sonne und sie verriet mir diesmal, dass wir neuerdings in die entgegengesetzte Richtung flogen, eigentlich zurück nach Madeira. Wenn die Sonnenstrahlen vorhin durch die Fenster auf der rechten Seite in die Kabine gefallen waren – die meisten Rollos dort waren noch heruntergelassen –, so schien mir das Tagesgestirn jetzt direkt ins Gesicht. Alsdann geschah noch etwas, was ich nicht sofort realisiert hatte. Erst als ich einmal schlucken musste, um den Druckunterschied in den Ohren auszugleichen, wurde mir bewusst, dass sich der Ton der laufenden Motoren geändert hatte, sie klangen viel tiefer, als ob sie wesentlich weniger Schub erzeugten. Wir befanden uns im Sinkflug. Was war vorgefallen? Hatten wir einen medizinischen Notfall an Bord und mussten dringend zurück ins Krankenhaus nach Funchal?

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 12.014
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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