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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 128
Der Platz auf zwölf Uhr war bis jetzt noch frei geblieben, fiel es mir auf. Der Schuppen war abgeschlossen, auf der Tür hing ein großes Vorhängeschloss. Es war die Stelle auf der Uhr, an der die Zeitzählung begann und anscheinend noch etwas anderes beginnen sollte, denn die geladene Gesellschaft schaute wie gebannt in Richtung der Zwölf-Uhr-Markierung in Erwartung irgendeiner weiteren Entwicklung und wurde belohnt für ihre Geduld. Wie aus dem Nichts erschien ein Kleinbus und hielt hinter der Scheune. Durch die Reihen der Gäste ging eine Welle der Erleichterung, die man ihnen von den Gesichtern ablesen konnte. Ich beobachtete mit Interesse, was als Nächstes geschah. Es öffnete sich die Fahrertür und der schlanke Busfahrer stieg aus, der uns vor zwei Wochen vom Flughafen zum Hotel gefahren hatte. Ich wunderte mich nicht, so etwas hatte ich schon erwartet. Die letzten Bedenken zerstreuten sich, als eine Schar von Kellnern aus dem Bus sprudelte und sich an die Arbeit machte. Angeführt vom stämmigen Rezeptionisten, der bei unserem Einchecken Dienst gehabt hatte, trugen sie aus dem Bretterhäuschen ausklappbare Biergartentische heraus, stellten sie im Kreis auf und bedeckten sie gleich mit schneeweißen Tischtüchern. Ein Teil der Kellner beschäftigte sich mit dem Aufbau des Büfetts in der Mitte. Sie brachten aus dem Bus haufenweise Essen und schleppten kistenweise Madeirawein heran, sodass mir bei dem Anblick sogar das Wasser im Mund zusammenlief. Ich machte für sie Platz, um sie nicht zu stören oder meine Anwesenheit zufällig zu verraten, und ging vorsichtig hinter die Gäste, um das Geschehen nunmehr von der Seite zu verfolgen. Das war also das Ziel dieser Veranstaltung auf dem verlorenen Bauhof. Eine Outdoor-Party im Angesicht des Gefallenen Engels in der Mitte zu Ehren von … Von wem eigentlich? Es war doch nicht etwa ein Abschiedsessen unseretwegen? Es hätte zeitlich gepasst. Aber warum waren wir nicht zum Fest eingeladen worden? Warum musste ich heimlich zusehen, anstatt mich bei einem Fläschchen Madeirawein mit Jean-Luke zu unterhalten? Es war auch egal, Französisch konnte ich eher nicht, sodass aus dem Gespräch nichts geworden wäre. Das betriebsame Getue ringsherum erinnerte mich immer mehr an ein Fest während der Pest. So grotesk, so absurd kam mir das Ganze vor, dass ich nur einen einzigen, sehnlichsten Wunsch hatte. »Ich will hier raus!«, schrie ich emotional geladen. »Wir müssen zurück ins Hotel. Weg von hier!« Ich hatte bei dem Schrei der Verzweiflung keine Angst haben müssen, dass mich jemand hören konnte, denn alle Gäste stürmten Hals über Kopf zum Büfett, nachdem der Rezeptionist eine kurze Ansprache gehalten und anschließend das Fest für eröffnet erklärt hatte. Ich konnte nach wie vor nicht hören, was genau er zu den Leuten sagte, aber man hätte es sich denken können.
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Nach einer Weile wurden die Gäste satt. Alle saßen an ihren Tischen ordentlich beschwipst vom vielen Madeirawein und diskutierten mit ihren Nachbarn, als der Akkordeonist mit seinem Instrument in den Händen auf einem Stuhl in der Mitte Platz nahm. Seine Lippen öffneten sich, als stimmte er ein Lied an, und seine Finger huschten über die Tasten. Es musste ein feuriges, rhythmisches Stück sein, denn sehr bald lenkte die Melodie die Gäste von ihren Gesprächen ab und ließ sie mit den Köpfen im Takt der Musik hin und her wackeln. Als Erster verlor der Funchal-Busfahrer die Beherrschung. Er torkelte in die Mitte des Kreises mitgerissen vom Rhythmus eines seiner heimischen Festlieder und führte dem Publikum schwer nachvollziehbare madeirensische Tanzschritte vor, die er vermutlich schon seit seiner Kindheit kannte. Als Nächstes gesellte sich der Förster zu seinem Kumpel und beide vollbrachten einen ballettschulwürdigen pas de deux in portugiesischer Interpretation. Im nächsten Augenblick tanzte schon die ganze Gesellschaft unaufhaltsam durch die Gegend! Jean-Luke, der inzwischen kräftig Schlagseite hatte, drehte sich ungezügelt zusammen mit dem russischen Mädchen um die eigene Achse, er hielt die junge Frau fest in seinen Armen, seine Hand rutschte immer tiefer unter die Gürtellinie auf ihrem Rücken. Die Augen ihres Freundes erhellten eifersüchtige Blitze, was ihn allerdings nicht davon abhielt, mit der Frau in Stöckelschuhen auf Tuchfühlung zu gehen, die ihr Knie beim Tanzen immer aufs Neue zwischen seine Beine vorschob. Sogar den steifen Engländer ergriff der allgemeine Tanzgeist und er vollführte im Alleingang eine Art Irish Stepdance, der offenbar schlecht zum Takt passte, aber das Einzige war, was er aus seiner Heimat für solche derart wilden Rhythmen kannte. Er hielt seine Finger von den weiblichen Rundungen fern, doch seinen Blick trübte auch ein Schleier fleischlicher Begierde, und zwar immer dann, wenn er sein Gesicht von der Blumenlady abwandte. Was der Rest der Gruppe machte, wollte ich nicht wissen. Ich musste hier wirklich dringend weg! Schon seit meiner Jugendzeit wusste ich aus Erfahrung, ein nüchterner Mensch hatte in einer durch alkoholische Getränke aufgeheiterten Gesellschaft nichts verloren. Ab einem bestimmten Moment kam einem alles, was trunkene Menschen so trieben, ziemlich ekelhaft vor. Nur wenn man mitmachte, empfand man die unmöglichsten Dinge als normal. Mitmachen konnte ich aufgrund gewisser Umstände nicht. Mir blieb nur eins: Nach einem Ausweg suchen. Ich sah hinüber zum Tunneleingang und erstarrte vor Schreck. Auf dem Platz davor stand der Postbote und beobachtete das bunte Treiben auf der Baustelle. Unsere Blicke kreuzten sich, er lächelte und winkte mir zu! Er konnte mich sehen! Der Mann war auch der Einzige, der auf der wilden Party fehlte. Weil er keine reale Person war? War er nur mein Hirngespinst, das mich seit einigen Tagen verfolgte? Während ich nach Antworten suchte, setzte der Briefträger seinen Weg fort. Er entfernte sich auf dem Pfad, der um die Baustelle herum weiter nach Westen führte, bis er zwischen den Adlerfarnen auf dem Hang nicht mehr zu sehen war. Inzwischen spielte der Musikant augenscheinlich ein langsames Stück, einige Pärchen in der Mitte klammerten sich tanzend aneinander, die uniformierte junge Frau von elf Uhr küsste sich leidenschaftlich mit ihrem Nachbarn. Der Rest der Gesellschaft stillte seinen Durst an den Tischen, die Tafel füllte sich mit immer mehr leeren Flaschen, sodass die Kellner mit dem Abräumen gar nicht mehr nachkamen.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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