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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 126
»Dieser verflu…« Ich hielt inne mitten im Satz, als ich mich zu Angelina umdrehen wollte, um ihr meine Meinung zu der aktuellen Wetterlage lautstark mitzuteilen. Mir fehlte einfach der Mut, den Satz zu Ende zu sprechen, geschweige denn nach hinten zu sehen. Die Schritte, die ich hinter mir hörte, stammten nicht von meiner Frau. »Klick – klack, klick – klack, klick – klack!«, echote es von der gewölbten Tunneldecke. Es waren Schritte einer Person, die Stöckelschuhe trug. Ich befürchtete das Allerschlimmste. Auf Madeira kannte ich nur eine Frau, die Stöckelschuhe in den Bergen trug und die Angewohnheit hatte, unerwartet in Begleitung eines fein gekleideten Herrn aufzutauchen. Vielleicht war der Herr auch jetzt irgendwo hinten, ich wollte es nicht herausfinden. Von Angst getrieben kämpfte ich mich durch die Schwaden ins Freie, um den Spuk loszuwerden. Es gelang mir auch zum Teil, doch dass es besser war, als im Tunnel zu bleiben, musste mir noch einer beweisen. Zumindest verstummten die Stöckelschuhe, sobald ich am Ausgang über eine unsichtbare Grenze getreten war. Ich war allein und ich sah eine andere Welt. Es schien die Sonne, an ihr war aber etwas falsch! Hinter mir wallte der Nebel in der Öffnung auf, die Schwaden bewegten sich aber nicht über eine magische Linie hinaus, der Eingang in den Tunnel sah aus, als wäre das Loch mit Watte zugestopft worden. Zurück traute ich mich nicht. Das grelle gelbliche Licht, das ich schon auf der anderen Tunnelseite gesehen hatte, überflutete auch hier die ganze Gegend. Es gab keine Fortsetzung der Levada! Sie war einfach nicht mehr da, aber sie hatte hier bestimmt nicht ihren Anfang. Ich hatte keine Zweifel, dass es nicht die Stelle war, nach der wir gesucht hatten, denn meinem Blick öffnete sich ein merkwürdiges Bild. Vor mir lag eine Waldlichtung, mitten im Nirgendwo. Sie hatte kaum Gefälle, was mir schon sehr seltsam vorkam, denn ich befand mich noch definitiv auf der Insel Madeira – links sah ich den Hang, der auf die in Nebel getauchte Hochebene Paul da Serra führte, rechts konnte man dem Hang bis zum Ozean mit dem Blick folgen. Der Boden der Lichtung bestand aus rötlichen Schlamm, der vermutlich durch Reifen großer Fahrzeuge fest und trocken gewalzt worden war. Ich konnte bloß nicht nachvollziehen, auf welchem Wege das schwere Gerät hierhergekommen und wo es abgeblieben war. Am Anfang dieser unwirklichen Baustelle erhöhte sich ein grob gezimmertes Brettertor, dessen Aufgabe ich nicht verstand: Seine Flügel standen sperrangelweit offen und die Lichtung war nicht eingezäunt. Es stand einfach für sich da. Der Platz erinnerte an einen Bauhof, denn um die Mitte herum lagerten irgendwelche Baustoffe, Ziegelsteine, Schotter und stapelweise Bauholz. Einige Scheunen, deren Bestimmung sich mir nicht erschließen wollte, rundeten das Bild ab, in dessen Mitte … Was sah ich da?
(?)
»Anjo Caído?!« Ich erinnerte mich an den portugiesischen Namen des Denkmals in Funchal und konnte einen Aufschrei der Überraschung nicht unterdrücken. In der Mitte des Platzes stand ein stählernes Gerüst, in dem der Gefallene Engel an einem Seil im Takt des Windes leicht hin- und herschaukelte. Bei jedem Schwung rieb sich das Seil am Befestigungshaken und quietschte wie ein altes eingerostetes Windrad. Was machte die Skulptur hier, an diesem verlorenen menschenleeren Ort? Das kam mir alles schon hollywoodreif vor und man hätte darüber lachen können, wenn es nicht so ernst gewesen wäre. Wo war ich hier hineingeraten? Wer hatte mich erneut hinters Licht geführt und auf diese verdammte Levada gelockt? Und wo war jetzt meine Frau? Mir blieb nicht viel anderes übrig, als mich zum Bauhof zu begeben. Ich ging durch das improvisierte Tor, mindestens eine Funktion musste es doch bekommen! Ich schritt langsam zu der Skulptur in der Mitte des Platzes und versuchte, den Eingang des vom Nebel verstopften Tunnels nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich war es der einzige mir bekannte Weg, der mich hätte hinausführen können aus dieser bizarren Welt. Die Bronzefigur sah mich düster an mit ihren leblosen Augen, als ich das Gerüst in der Mitte erreicht hatte, und einen winzig kleinen Augenblick glaubte ich, eine flüchtige Reflexion, ein kaum erkennbares Lebenszeichen darin gesehen zu haben. Ich verwarf den Gedanken und sah weg, Geistergeschichten waren jetzt nicht für meine Nerven. Ich schaute mich um. Es schien mir, dass die Scheunen und die Holzstapel nicht einfach so in der Gegend herumstanden, sondern einem bestimmten geometrischen Muster folgten. Ja, natürlich! Mein Augenmaß sagte mir, dass sie alle die gleiche Entfernung zum Mittelpunkt hatten. Es war fast ein perfekter Kreis. Darüber hinaus hatten alle Objekte auf der Kreislinie etwa den gleichen Abstand zueinander. Und es waren genau zwölf! Ich stand im Mittelpunkt einer überdimensionalen Uhr, nur dass die Zeiger und die Zahlen fehlten, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Ich war mir nicht absolut sicher und suchte verzweifelt nach einer anderen Erklärung, welchem Zweck sie diente, diese kreisförmige Anordnung von Objekten unter freiem Himmel mit der Skulptur im Zentrum. Ich fand keine. Für mich war es eine Uhr. Der Engel im Gerüst war nach Süden ausgerichtet und starrte von oben eine Scheune an, die meiner Meinung nach den Zwölf-Uhr-Punkt markierte. Ich positionierte mich ebenfalls so, dass die Bretterbude frontal vor mir lag, um die Absichten des Erbauers besser nachempfinden zu können. Ich kam ins Grübeln, warum ausgerechnet diese Scheune der Anfang der Zeitzählung werden sollte, als ich mit dem Seitenblick eine Bewegung auf drei Uhr wahrnahm. Ich drehte mich erschrocken um und mein Blick kreuzte sich mit dem von der Frau in Stöckelschuhen, die zusammen mit ihrem Begleiter, dem Herrn mit Sakko und Krawatte, zwischen der Drei-Uhr-Station und dem Sandhaufen auf vier Uhr stehen blieb. Die beiden diskutierten etwas lebhaft. Sie zeigten abwechselnd auf die Mitte des Platzes und versuchten, einander etwas zu beweisen, aber allem Anschein nach meinten sie nicht mich! Mich konnten sie offenbar nicht sehen. Ich räusperte mich hörbar, um meine Anwesenheit anzuzeigen. Sie hielten inne, sahen etwas verwirrt in meine Richtung und setzten ihre Unterhaltung fort, nachdem sie keine offensichtliche Geräuschquelle gefunden hatten. Sie konnten mich also ganz gut hören, was ich meinerseits ihnen gegenüber nicht behaupten konnte. Ich vernahm keinen einzigen Ton aus ihrem Gespräch, nur das Quietschen des Seils klang einsam in der Gegend. Die beiden beendeten ihre Diskussion und verschwanden hinter dem Sandhaufen.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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