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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 121

Ich konnte nicht ruhig mit ansehen, was gerade geschah, und drehte mich weg. Was mancher mit einer enormen Anstrengung erwarb, oft unter menschenunwürdigen Bedingungen erlangte, wurde von einem anderen gerade über den Haufen geworfen. Ich war mir dessen bewusst, dass mein Vorwurf eher den Eltern galt als ihrer halbwüchsigen Tochter. Hatten Sie überhaupt schon versucht, ihr begreiflich zu machen, dass Verschwendung ein Schlag ins Gesicht all derjenigen war, die jedes Brötchen hart verdienen mussten? Insbesondere wenn man es öffentlich tat. Es war ein grundsätzliches Problem der abendländischen Zivilisation. Vielleicht wusste sich das Mädchen nicht besser zu helfen, als sie sich ihrer zusätzlichen Last entledigte, die nicht mehr in die Währung ihrer Heimat eintauschbar war, aber ich fragte mich, ob der Grund dafür nicht darin lag, dass sie es bei den Eltern noch nie anders gesehen hatte. Ich glaubte nicht, dass der Kellner im Restaurant der Badeanlage, irgendein Louis, den eine kranke Mutter und ein paar hungrige Geschwister abends nach Hause erwarteten, die Annahme verweigerte, wenn sie sich bei ihm noch zusätzlich mit dem Kleingeld für das leckere Eis bedankt hätte.

Die Fahrgäste stürmten zur Tür, um sich einen Sitzplatz zu erkämpfen, ich hatte nicht gemerkt, dass unterdessen der Bus vorgefahren war. Während die Leute einstiegen, blieb ich noch für einen Augenblick auf dem Bürgersteig zurück und sammelte die Münzen wieder ein, ich bückte mich auch sonst nach jedem Cent, der auf der Straße lag. Eine Münze passte nicht ins Bild, es war kein europäisches Geld, es war ein Penny mit dem Abbild Ihrer Majestät, der Königin von England.

* * *

War es reiner Zufall oder eine höhere Vorsehung des im Verborgenen agierenden Erlkönigs im Bunde mit dem geheimnisvollen Briefträger? Ich fragte mich, warum wir ausgerechnet am letzten Urlaubstag dieselbe Strecke abwandern wollten, die wir schon an unserem allerersten Tag auf der Insel mehr als nur flüchtig kennengelernt hatten. Seit meinem nächtlichen Ausflug füllten närrische Verschwörungstheorien meinen Kopf und ließen mich eine tiefere Bewandtnis hinter Dingen und Erscheinungen vermuten, die in ihrer Natur ganz simpel und harmlos waren. Aber wer wusste es schon, im Folhadal wimmelte es von Elfen und Fabelwesen und keiner konnte mir sagen, welchen Blödsinn sie heute mit mir vorhatten.

Es war mir an diesem Morgen ein wenig zumute wie Jean-Luke, als er am Fuße der Treppe in der Empfangshalle nach dem durchzechten Abend gesessen hatte. Das letzte Gläschen Madeirawein musste qualitativ nicht mehr so hochwertig gewesen sein, denn es kam schon vom Boden der Flasche und dort konnte sich etwas abgesetzt haben! Möglicherweise hätte man den Wein auch nicht im Wechsel mit dem Irish Whiskey trinken sollen. Der Zaubertrank stand auf dem Schminktisch vor dem Spiegel und die Flasche war zu zwei Drittel leer. Aber der Kaffee stellte mein Wahrnehmungsvermögen einigermaßen wieder her und ich war guter Dinge, dass sich der leichte Kater innerhalb einer halben Stunde verflüchtigte.

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Der Brockenwicht

Der Brockenwicht

Novelle von Nikolaus Warkentin
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Ein weiterer sonniger Tag kündigte sich an hinter den Bergen des Zentralmassivs im Osten. Der dunkle Umriss des Turmberges vor dem Hintergrund des von der aufgehenden Sonne erleuchteten Himmels versprach erneut ein Naturspektakel mit der lokalen Sonnenfinsternis – wohl die letzte in diesem Urlaub und auch vermutlich die letzte in meinem Leben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre ich nie wieder an diesen Ort zurückgekehrt, denn es war noch nie vorgekommen, dass wir jemals dasselbe Hotel gebucht hatten. Noch nie! Morgen hätten wir ganz sicher keine Möglichkeit gehabt, das Schauspiel zu erleben, weil um halb acht … Ja, natürlich … Morgen um halb acht, fiel es mir wieder ein. Morgen um halb acht wurden wir abgeholt! Es war ziemlich früh, wir mussten heute Abend schon unsere Koffer packen! Demnach stand uns ein langer Tag bevor. Ohne groß nachzudenken, fiel mir schon eine ganze Reihe von Aufgaben ein: meine Frau wecken, zum Frühstück gehen, Rucksäcke packen, bis ans Ende der Welt wandern sowie heil zurückkommen und abermals packen, diesmal aber richtig, für eine weite Reise. Der Madeirawein musste übrigens auch noch irgendwann getrunken werden! Wir hatten viel zu tun, es wäre besser gewesen, wenn wir so früh wie möglich aufbrachen, von mir aus schon jetzt, aber das Restaurant hatte noch zu, dort wollten wir eine Kleinigkeit für den Ausflug mitnehmen. Mit der ersten Aufgabe konnte ich allerdings schon mal beginnen – Geli wachrütteln, ganz langsam und vorsichtig, um nicht mitgerissen zu werden von einem Tornado verbaler Abnormitäten. Es konnte länger dauern, als man dachte! Viel länger …

Nachdem wir die Passstraße nach dem Frühstück beschritten und schon einige hundert Meter zurückgelegt hatten, fand ich einen Umstand ziemlich merkwürdig: Anstatt einfach gedankenlos, das Ziel vor Augen, den Weg entlang zu laufen, suchte ich mit meinem Blick hartnäckig nach bekannten Stellen und vertrauten Details in der Umgebung. Von Anfang an versprach diese letzte Wanderung, zu einer Erinnerungstour zu werden über einzelne Stationen unserer zwei Urlaubswochen, denn so gut wie jeder Ausflug und jede Wanderung hatte etwas mit dem Pass von Encumeada zu tun gehabt. Den Pass nicht noch einmal vor der Abreise zu besuchen und Abschied zu nehmen, wäre nicht richtig gewesen. Es war vielleicht nicht die schlechteste Idee vom Erlkönig gewesen, uns am letzten Tag wieder auf die Levada do Norte zu schicken. Ich ließ zeitweise sogar den Verdacht gelten, dass das Radrennen, weswegen wir überhaupt jetzt hier unterwegs waren, von langer Hand geplant war, um uns dorthin zu locken, wo man uns haben wollte. Diesen abstrusen Gedanken verwarf ich jedoch, nachdem ich die unglaubliche Torheit meiner Annahme verstanden hatte. Der Tag für das Rennen war bestimmt schon vor Jahren festgelegt worden, als es noch gar nicht abzusehen gewesen war, in welche Richtung unsere Urlaubsreise gehen sollte, und die Insulaner sich noch nicht in ihren wildesten Träumen gegen zwei Hobbywanderer hätten verschwören können! Das war alles Quatsch!

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 12.013
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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