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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 110

Ich ahnte schon, wen ich da sah, als ich auf der Straße eine dunkel gekleidete menschliche Figur bemerkte, die gerade die Stadt verließ und anscheinend nach oben zum Pico Ruivo schritt. Es bestand kein Zweifel, das war mein alter Bekannter mit der Tasche über die Schulter. Er konzentrierte sich auf den Aufstieg und merkte mich nicht, der Weg war steil, ich wusste es schon von gestern. War das seine tägliche Route? Von der Zeit her hätte es gepasst. Heute Nachmittag wäre er etwa an der Stelle auf dem Pfad gewesen, wo wir ihn gestern getroffen hatten! Ich flog einfach weiter, ohne den Mann zu behelligen. Er hatte noch einen langen Weg vor sich und es war besser so, denn sein Lächeln konnte ich derweil auch nicht mehr sehen.

Ich bewegte mich nach Westen entlang der Küstenlinie zum nächsten Ort, als etwas am Strand meine Aufmerksamkeit erregte. Um näher heranzufliegen, musste ich meine Flughöhe verringern, aber es lohnte sich. Direkt am Ufer, beinahe in den brechenden Wellen der Brandung, stand eine alte Ruine, gemauert aus grauem Lavastein, die sich mit einem Tor in Form eines Rundbogens schmückte! War das der Bogen von São Jorge, diesem allgegenwärtigen Georg, der mich schon seit Tagen mit seinem Arco beschäftigte? War diese Ruine der Grund dafür, dass der Briefträger mich auf die Nordseite gelotst hatte, damit ich den Bogen endlich zu Gesicht bekam? Nein, es konnte doch nicht stimmen. Der Ort oberhalb der Reste der mittelalterlichen Anlage hieß São Jorge und nicht Arco de São Jorge, soweit ich mich noch an die Karte erinnerte. Tatsache war aber: Es war ein Bogen und er stand in der Nähe eines Ortes, der etwas mit dem Georg zu tun hatte.

Leicht verunsichert setzte ich meinen Rundflug über der Insel fort und sichtete bald hinter dem nächsten Inselvorsprung das Dorf vom »richtigen Georg«, dem mit dem Bogen, – Arco de São Jorge! Ich erkannte schon den Sportplatz neben dem Aussichtspunkt, wo wir mit Geli auf den Ozean hinausgeschaut hatten, und beschloss, in die Höhe zu steigen, um die Küste bis nach São Vicente zu sehen. Zusätzlich entfernte ich mich ein Stück von der Insel, um noch ein besseres Panorama einzufangen. Das Geheimnis des mysteriösen Bogens erschloss sich mir ganz unkompliziert und schnell, als ich den nötigen Abstand zu ihm hatte. Ich sah ihn einfach unter mir! Den Bogen, den ich gesucht hatte, gab es nicht. Es gab kein Tor, es gab keine Straße mit einer Biegung, es gab auch keine Kirche mit einem rätselhaften Bogen vom heiligen Georg als Reliquie. Stattdessen gab es einen Bogen in der Landschaft! Ihn bildeten die umliegenden Bergzüge, die den Ort von drei Seiten in einen Halbkreis einschlossen. Das Plateau in der Mitte sah aus der Luft fast wie ein perfekter Kreis aus, bei dem eine Hälfte vom blauen Meer verschluckt worden war.

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Der Brockenwicht

Der Brockenwicht

Novelle von Nikolaus Warkentin
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Wie ein Kind freute ich mich über meine neue Erkenntnis. Der Mensch war gefangen in seinen konventionellen Klischeevorstellungen und Denkweisen, er erkannte oft nicht das Offensichtliche, das direkt vor seiner Nase lag, und suchte verzweifelt nach Lösungen für ein Problem dort, wo es sie gar nicht geben konnte. Häufig fand man aber eine Antwort auf fast jede Frage, wenn man die Sache aus einer gewissen Distanz betrachtete oder erst die ganze Problematik umdrehte und sie sich von einer anderen Seite ansah. Ich war mir irgendwie sicher, in luftiger Höhe die richtige Antwort in Bezug auf den Bogen gefunden zu haben, aus einigen hundert Metern Entfernung. Es gab einfach keine andere Erklärung, warum der Bogen im Namen des Ortes vorkam. Aber ein kleiner Zweifel wurmte mich noch: Wie hatten die ersten Siedler, die sich den Namen ausgedacht hatten, aus nächster Nähe erkennen können, dass es ein Bogen war? Sie hatten doch nicht auch fliegen können, oder …?

Ich war unschlüssig, wie lange ich noch so entlang der Küste fliegen sollte. Bis nach São Vicente auf jeden Fall, überlegte ich mir, denn aus irgendeinem Grund interessierte es mich brennend, ob die Altstadt tatsächlich so gut hinter dem Felsen versteckt war, dass Piraten sie vom Meer aus nicht hätten sehen können. Ich senkte mich bis auf ein paar Meter über der Wasseroberfläche und flog frontal auf den Eingang zum Tal von São Vicente zu. Ungefähr so, wie es meiner Vorstellung nach ein Piratenschiff getan hätte, wenn es sich einer Insel näherte und die Seeräuber Ausschau nach lohnender Beute hielten. Als Ausguckposten im Krähennest der Räubergaleone hätte ich höchstwahrscheinlich keine Anzeichen von Siedlern im Tal festmachen können. Dachte man sich die roten geziegelten Dächer auf den umliegenden Hügeln weg, glich das Tal einem menschenleeren Ort, wo es nichts zu holen gab. Die Siedlung war schon sehr geschickt hinter einem Bergvorsprung untergebracht, sodass nicht einmal die Spitze des Kirchturms den Verbrechern Anlass hätte geben können, an Land zu gehen. Nur das verräterische Kreuz der Kapelle an der Küste, das zu Piratenzeiten auch schon da gewesen sein musste, ließ die ganze Tarnung auffliegen. Seine Rolle beim Schutz gegen Piraten konnte ich nach wie vor nicht verstehen.

Es lohnte sich vielleicht noch ein kurzer Ausflug zum Folhadal. Man hätte alsdann der Levada do Norte nach Westen folgen können, um herauszufinden, wo sie denn ihren Ursprung hatte, und sich bei der Gelegenheit auch ein Bild vom westlichen Teil der Insel machen. Es kam aber anders. Ich hatte nicht die allumfassende Kontrolle über die Flugroute und die Flugdauer. Die unsichtbare Kraft, die meinen Flug aus dem Verborgenen lenkte, war permanent präsent. Sie wich keine Sekunde von meiner Seite und steuerte sanft, aber mit großer Bestimmtheit meine Körperbewegungen. Frei bewegen durfte ich mich nur im Rahmen dessen, was von ihr festgelegt war. Ich musste jedes Mal selbst in Erfahrung bringen, was erlaubt und was verboten war, denn die Kraft war sehr schweigsam, man konnte mit ihr nicht kommunizieren.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 12.012
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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