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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 108
Darin bestand kein Zweifel. Da sah ich den Turm der Kathedrale emporragen, dort machte sich das Hotelviertel durch seine hell angestrichenen Fassaden bemerkbar und im Hafen lag das nächste Kreuzfahrtschiff, fest vertäut am Anleger. Das Ganze hatte ich schon gesehen, und zwar fast genau aus dieser Perspektive. Richtig, auf dem Bild, das Geli vom Turm der Kirche in Monte geschossen hatte, als wir eine Schlittenfahrt machen wollten, fiel es mir plötzlich ein. Nossa Senhora do Monte lag direkt unter mir, die »Strohhüte« waren schon dabei, ihre Holzgefährte in Position zu bringen. Die carros reihten sich auf der Straße und warteten auf den Ansturm der Touristen. Die Seilbahn stand noch still zu dieser frühen Stunde, sodass die carreiros sich noch eine Pause gönnen konnten, ehe sie die Schlitten mit unterschiedlich beleibten Herrschaften anschieben durften. Ich glitt nach unten und flog entlang der Straße, nur ein paar Meter über den Köpfen der Männer, um sie mit meiner Anwesenheit in der Luft zu überraschen. Doch kein einziger Schlittenfahrer sah in meine Richtung, sie bemerkten mich einfach nicht. War ich unsichtbar? Davon war auszugehen, denn auch die Handvoll wartender Fahrgäste, die sich hier bereits auf eigene Faust eingefunden hatten, zeigte keine Regung. Was für einen Raum- oder Zeitsprung ich über dem Curral das Freiras vollbracht hatte, war ein großes Rätsel, es erschien mir aber nicht weiter wichtig, solange ich gesund und munter meinen Flug über der Insel fortsetzen konnte. Und dass andere mich nicht wahrnahmen … Das war Pech. Pech für die Leute, die sich eine derartige Attraktion entgehen ließen! Bei der Gelegenheit wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen, sich den Botanischen Garten von oben anzuschauen, überlegte ich mir, während ich über die Seilbahnstation hinwegflog. Den Weg zum Bahnhof, von wo die Gondeln nach unten zum Garten abfuhren, kannte ich schon. Von dort wollte ich dem Seilbahnverlauf folgen. Ich glitt gemächlich durch die Lüfte von einem Mast zum anderen, ohne eine Gefahr für mich als Tiefflieger zu erkennen. Sie kam jedoch immer näher. Als ich fast am Ziel war und längst von Weitem die kunstvoll angelegten Rasenflächen betrachtete, huschte ein Schatten quer über meine Flugbahn, von rechts nach links und den Hang hinauf. Überrascht blickte ich der Erscheinung hinterher. Auf dem Hügel zu meiner Linken stand ein Mast. Es war aber ein Stützpfeiler einer anderen Art! Er trug die Last einer Reihe von Hochspannungsleitungen. Erst nachdem ich rechts von mir den zweiten Mast entdeckt hatte, wurde mir das Ausmaß des drohenden Unheils bewusst: Die schattenhaften Metallfäden, die dazwischen gespannt waren wie ein dünnes Spinnennetz, kreuzten meinen Weg und ich flog direkt auf sie zu. In panischer Angst strampelte und ruderte ich mit den Händen wie ein Wahnsinniger, um nur irgendwie die Flugrichtung zu ändern und dieser Begegnung aus dem Weg zu gehen. Am allerwenigsten wollte ich erfahren, ob mich der Knall des Mauerdurchbruchs über dem Pass resistent gegen Stromschläge gemacht hatte. Schweißgebadet vor Aufregung hatte ich es auf den letzten Zentimetern geschafft, der gemeinen Falle auszuweichen. Die oberste Leitung war gefährlich nahe, als sie langsam unter mir vorbeiglitt und ich aus nächster Nähe jeden einzelnen Strang sehen konnte, aus denen die Hauptader wie ein Tauwerk geschlagen war.
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Meine Lektion hatte ich gelernt. Ich beschloss, dass ich ab sofort nur in sicherer Höhe fliegen sollte, vor allem in bewohnten Gegenden. Außerdem hätte ich meiner Frau nie im Leben erzählen dürfen, was sich für ein herrlicher Blick auf den Botanischen Garten von oben bot. Sie hätte mir bis zum Lebensende Vorwürfe gemacht, dass ich vor der Seilbahn nicht Schlange stehen wollte. Viel Ahnung davon, wie all die tropischen Gewächse hießen, hatte ich nicht. Die Namen der zu seltsamen Formen zurückgeschnittenen Bäume interessierten mich auch nicht besonders, mir reichte schon der außergewöhnlich schöne Anblick. Die kunstvoll angelegten Blumenbeete und Rasenflächen erinnerten an Puzzlebilder, auf denen jedes Stück seine eigene Farbe hatte. Es waren nur Flächen, die mit Blumen unterschiedlicher Farben bepflanz waren, aber zusammengesetzt ergaben sie wundersame geometrische Muster, deren Verständnis jenseits meiner Vorstellungskraft lag. Ich hatte einen riesigen Vorteil gegenüber den Touristen, die täglich den Garten überströmten. Den tieferen Sinn, den schlauen Plan des klugen Kopfes, der die Anlage entworfen hatte, konnte man in vollem Umfang nur von oben erkennen. Aus der Höhe sah ich auch eine menschliche Figur, die mitten auf einem Rasen stand und in meine Richtung sah. Nein, es war keine Skulptur, stellte ich nach einiger Zeit fest, denn die Person winkte mir zu! Über seine Schulter trug der Mann eine große Tasche. Ich erkannte in ihm den »Postboten«, den wir mit Geli auf dem Wanderpfad getroffen hatten. Er hatte dieselben Sachen an wie gestern auf dem Berggrat. War er seither immer noch unterwegs? Und warum konnte er mich eigentlich sehen? Es war alles sehr seltsam. Ein warmer Aufwind ergriff meinen Körper und trug mich nach Osten entlang der Küste. Eigentlich hatte ich zuvor noch mit dem Gedanken gespielt, mir das Rathaus von Funchal anzusehen, das wir bei unserem Ausflug ausgelassen hatten. Doch ich war mir nicht sicher, ob die Luftströmung, die mich erfasst hatte, nicht ebenfalls Teil eines Plans war, den sich jemand meinetwegen ausgedacht hatte. Ich zog erst einmal vor, der vorgegebenen Flugrichtung zu folgen.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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