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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 107

Der Mut verließ mich, als ich kurz davor war, den Boden mit dem Fuß zu berühren. Es war töricht, ich zögerte aus nicht nachvollziehbaren Gründen den Bodenkontakt hinaus. Die innere Gewissheit, dass ich es meistern konnte, wackelte einen kurzen Augenblick, er reichte aber schon aus, um beinahe eine Bauchlandung hinzulegen. In letzter Sekunde streckte ich ein Bein nach unten aus, berührte mit dem Fuß den Pfad und musste noch einige Schritte mit halb gebeugten Knien laufen, bis ich zum Stillstand kam. Es war gerade noch gut gegangen, ich wollte es mir nicht ausmalen, was gewesen wäre, wenn ich meine mentale Schwäche und latente Zweifel an meinen eigenen Fähigkeiten nicht rechtzeitig in den Griff bekommen hätte.

Ungeachtet der etwas missglückten Zwischenlandung, hatte ich am Fliegen großes Gefallen gefunden. Ich war überzeugt, dass ich es schon immer gekonnt hatte! War es nicht eine Gabe, die man in die Wiege gelegt bekam, eine körperliche Fähigkeit wie schwimmen können, die still im Verborgenen ihrer Stunde harrte, bis sie eines Tages entdeckt wurde? Man konnte es nicht ausschließen! Kein Mensch wusste, dass er eine angeborene Fähigkeit zum Radfahren hatte, bis er es eines Tages konnte und nie wieder verlernte. Wer sich nicht allzu albern anstellte, war vielleicht imstande, die vermeintlich fehlende Befähigung zum Fliegen durch ein wenig Anstrengung zu erlangen. So etwas musste mir heute Morgen widerfahren sein. Ich wusste nicht warum, ich wusste nur, dass ich es konnte. Es bestand kein Zweifel, dass ich mit ein paar Schritten Anlauf erneut abgehoben und weitergeflogen wäre. Oder? Ich probierte es aus. Ich lief zehn Schritte auf dem Pfad und sprang mit Schwung in die Höhe. Es funktionierte nicht. Die Luft weigerte sich, mein Gewicht zu tragen. Nein, mit »Oder« und »Ob« hätten meine Bemühungen nie im Leben Früchte getragen. Etwas sagte mir, man musste fest daran glauben, um Erfolg zu haben. Ich verließ mich voll und ganz auf die rätselhafte Kraft, die hier offenkundig alles steuerte, und machte einen neuen Versuch. Mit ausgebreiteten Armen rannte ich los, ohne zu zweifeln, dass sie mich in der Luft tragen konnten. Diesmal waren keine fünf schnelle Schritte erforderlich, damit sich die Beine wie von alleine vom Boden lösten und nach hinten ausstreckten. Ich war langsam und schwebte vorerst tief über dem Wanderweg, sodass ich noch jedes einzelne Tröpfchen des Morgentaus auf den Grashalmen sehen konnte, aber ich flog! Ich bewegte mich vorwärts, ohne den Boden mit irgendeinem Körperteil zu berühren. Die Antwort darauf, wie man an Höhe gewinnen konnte, war naheliegend. Wenn ein Taucher unter Wasser mit Schwimmbewegungen seine Tauchtiefe bestimmen konnte, warum hätte mich beim Fliegen das Gleiche nicht nach oben bringen sollen? Ich arbeitete mit den Armen wie ein Brustschwimmer und kam schnell auf eine Höhe von fünf Metern. Vor allem wurde ich aber deutlich schneller. Man musste tatsächlich daran glauben, was man tat!

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Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Des Teufels Steg - Wenn sich die Pforte schließt

Roman von Nikolaus Warkentin
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Ich streckte wieder meine Arme seitlich aus, die Geschwindigkeit reichte, um den Luftstrom, der auf die gespannten Handflächen traf, Auftrieb erzeugen zu lassen. »Wohin soll meine Flugreise gehen?«, fragte ich mich, während ich in der Luft glitt und die Aussicht auf das Tal von São Vicente genoss. Es waren atemberaubende Bilder, die uns gestern verborgen geblieben waren. Aus diesem Blickwinkel hatte ich das Tal noch nie zuvor gesehen. Die Bergzüge, die das Tal säumten, sahen von hier ganz anders aus, nur die Kirche auf dem Hügel mitten im Tal verriet, dass es dieselbe Gegend war, die ich schon mehrmals von unten gesehen hatte. Auf der Südseite zu meiner Rechten gähnte der Abgrund des Curral Jancão. Die beiden Täler trennte nur ein nadelbreiter Grat der Wetterscheide, der gerade mal genug Platz für den Trampelpfad hatte, schien es mir von oben. Ich wunderte mich nicht minder, dass wir bei Nacht und Nebel heil vom Bergkamm heruntergekommen waren. Ob ich jetzt zwischen den Bäumen des dichten Waldes den Königspfad und die Bogenbrücke unten im Curral hätte ausmachen können, ging mir durch den Kopf, als ich von oben eine kahle Stelle mit angekohlten Baumstämmen am Hang sah. Ich musste irgendwie die Flugrichtung korrigieren, um etwas mehr nach rechts zu fliegen, zur Mitte des Currals. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit, als sich der Boden unter mir in die Tiefe senkte und ich mich mit einem Mal in schwindelerregender Höhe über der Schlucht wiederfand, nachdem ich meine rechte Hand um die eigene Achse gedreht und senkrecht gegen den Wind ausgerichtet hatte. Abermals hatte ich nicht die leisesten Zweifel daran gehabt, dass diese Aktion den Widerstand auf der rechten Seite erhöht und unweigerlich zu einem Kurswechsel geführt hätte. Konzentriert hielt ich Ausschau nach der Brücke, aber ich fand sie nicht, obgleich das Flüsschen und der Königspfad stellenweise in der dichten Vegetation gut erkennbar waren. Ich flog einfach zu hoch, um Einzelheiten unter dem grünen Dach der Baumkronen auseinanderhalten zu können, und viel zu schnell, um irgendwelche Orientierungspunkte zu finden, die sich mir während der Wanderung ins Gedächtnis eingeprägt hatten. Ich konnte nicht einfach anhalten und mir die Gegend in Ruhe ansehen.

Wie der Sog eines gewaltigen Wirbels zog mich die unsichtbare Kraft nach vorn, sodass ich im Moment wahrscheinlich nicht hätte landen können, auch wenn ich es gewollt hätte. Sie trug mich auf den Bergsattel zu, der den Übergang zum Nonnenstall versperrte. Ich flog immer schneller nach unten, als ob ich Anlauf zum Überwinden des Hindernisses nehmen wollte. Als ich schon die Baumwipfel beinahe berühren konnte, erfasste ein Aufwind meinen Körper und drückte mich kraftvoll nach oben zum Sattel. Ich erlebte etwas Ähnliches wie einen Wiederaustritt aus dem Sturzflug. Warum ich mehr Schwung bekommen sollte, erfuhr ich schon bald. Je näher der Bergscheitel kam, umso dichter wurde die Luft. Der Widerstand stieg enorm. Es kam mir vor, als tauchte ich in eine weiche watteartige Masse ein, die den Durchflug auf die andere Seite verhindern wollte. Das inzwischen vertraute Bild des Curral das Freiras öffnete sich mir bereits hinter dem Berg, als ich fast zum Stillstand kam. Über dem Grat des Bergsattels ließ die Gegenkraft urplötzlich nach und ich schoss mit einem dumpfen Knall wie ein Korken aus dem Flaschenhals auf die Seite des Nonnentals hinaus, als hätte ich eine unsichtbare Mauer durchbrochen. Ich schwebte verwundert und regungslos in der Luft und versuchte, mich neu zu orientieren. Ich konnte den Pico Ruivo auf der anderen Talseite nicht sehen, aus unerfindlichen Gründen gab es keine andere Seite, stattdessen entdeckte ich in der Ferne einen Küstenstreifen, hinter dem sich der endlose Atlantik bis zum Horizont erstreckte. Unter mir lag eine Stadt. Es war Funchal.

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Das Geheimnis des vernebelten Passes von Nikolaus Warkentin

Kurzinhalt

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
Nikolaus Warkentin

Über den Autor

Name: Nikolaus Warkentin
Geboren: 1962
Hauptberuf: Unternehmer
Hobby: Reisen
Veröffentlichungen: 3
Reiseroman: 1
Novelle: 1
Roman: 1
Kontakt: » E-Mail Nachricht
Statistiken

Zahlen & Daten zum Werk

Aufrufe: 12.012
Online Seiten: 145
PDF Downloads: 54
PDF Seiten: 340
EPUB Downloads: 41
EPUB Seiten: deviceabhängig
Druckzeichen: 665482
Druckwörter: 122463
Buchseiten: 504
Erschienen: January 2021

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