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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 104
»Pass bloß auf, wohin du trittst!«, warnte ich an einer gefährlichen Stelle abermals meine Frau, die sich hinter mir in einiger Entfernung im Springen übte. »Wann hört der Mist endlich auf?« »Du hast doch gesagt, dass wir schon da sind!«, antwortete ihre Silhouette vom benachbarten Stein. »Pass du lieber auf! Ich habe richtige Wanderschuhe mit gutem Profil. Und du?« »Es ist egal, was ich anhabe! Pass auf, man kann fast nichts mehr sehen. Wie lange wir diesen Spaß noch haben, weiß auch keiner. Der Weg führt uns im Moment weg vom Pass. Wir sind da, aber noch nicht am Ziel.« Irgendwann musste doch der Pfad nach Westen drehen! Aber wann und wo die Kehre kam, war ungewiss. Abgesehen von der Dunkelheit und dem Nebel versperrte dichter Wald zu beiden Seiten des beschwerlichen Weges jegliche Sicht. »Ich glaube, wir sind bald am Pass«, meinte Geli nach zehn Minuten, als wir die langersehnte Biegung erreichten. Die Steine waren inzwischen kleiner geworden und hatten sich zum Schluss in ein faustgroßes Geröll verwandelt. »Kann sein!«, bestätigte ich ihre Vermutung. »Wir wandern jetzt auch in die richtige Richtung.« Der Weg wurde breiter, aber man konnte auf diesem Geröllfeld nicht gehen! Die Schuhe rutschten ab von den runden Steinen und blieben dazwischen stecken. Man geriet ins Straucheln, sobald man versucht hatte, ein paar Schritte zu machen. Glücklicherweise waren wir nicht die ersten Wanderer, die diesen Weg entlangschritten. Auf einem kleinen Buckel, der sich rechts neben dem Geröllpfad zog, hatten die Kollegen schon einen kaum sichtbaren Steig festgetrampelt, auf dem man erheblich schneller vorankam. Der Weg wurde zunehmend flacher und erinnerte schon entfernt an eine Feldstraße, als ich merkte, dass ein Abzweig nach links abging und in der nebeligen Dunkelheit verschwand. Wenn das nicht die Zufahrt zu dem Gelände war, wo die Sendemasten standen … Und ob sie es war! Denn drei Minuten später tauchten vorne auf dem Weg zwei diffuse Schatten auf – es waren die Absperrbügel, die den Wanderweg vor dem Verkehr auf der Passstraße schützten und die Zufahrt zu den Antennen für Unbefugte verhinderten. Wir waren am Pass von Encumeada. Wir hatten es geschafft!
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Auf der südlichen Seite des Passes wurde es noch ein klein wenig heller. Den letzten Nebelfetzen schickte uns die Nordseite durch die Felsbresche mit einer kräftigen Windbö hinterher, nachdem wir zum Berghof hinausgekommen waren. Der Hund schlief mittlerweile. Es rührte sich nichts, nicht einmal ein Auto fuhr auf der Passstraße. Absolute Stille herrschte über dem Tal von Ribeira Brava, nur der kalte, feuchte Luftstrom, der uns durch die Öffnung des Durchbruchs in der Felswand in den Rücken wehte, erzeugte Geräusche. Nach dem anstrengenden Abstieg machten wir eine kurze Pause am Geländer des Parkplatzes, wo wir schon an unserem ersten Tag die Aussicht in den Talkessel bewundert hatten. Wir tranken unser letztes Wasser und wischten uns den Schweiß von der Stirn. Das Licht der einsamen Laterne am Berghof reichte aus, um nach der Zeit auf der Uhr zu sehen – es war zwanzig vor zehn. Seit unserer letzten Rast wanderten wir also nur knapp eine Stunde und nicht eine halbe Ewigkeit, wie es mir zuweilen dort oben vorgekommen war. Die Chancen, eine warme Mahlzeit im Restaurant zu bekommen, standen erstaunlicherweise sehr gut! Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht mehr gerechnet, aber von hier brauchten wir bis zum Hotel nur zehn, vielleicht fünfzehn Minuten. Die Kellner hätten uns doch nicht einfach hinausgeworfen, auch wenn wir uns um fünf Minuten verspätet hätten, dachte ich mir. Ich sah mich um und stellte fest, dass nach Süden zu über dem Ozean einzelne Sterne funkelten und die Konturen der Bergspitzen vor dem Hintergrund des noch nicht ganz pechschwarzen Himmels deutlich zu erkennen waren. An der Stelle aber, wo ich den Turmberg vermutete, erstreckte sich ein tiefes, finsteres Nichts. Dort hatte der Nebel den Bergrücken der Insel fest im Griff. Das gleiche Bild bot sich einem, wenn man seinen Blick auf die Hochebene Paul da Serra richtete: Gähnende schwarze Leere. Aber am Hang unterhalb des dunklen Reiches der gespenstischen Nebelgeister leuchtete eine einsame Perle. Ihr weiches gelbes Licht gab einem erschöpften Wanderer die Hoffnung auf eine sichere Zuflucht vor der Kälte der Nacht, mit einem reichlich gedeckten Tisch und einem warmen Bett. Es war unser Hotel! Es war hell beleuchtet und war ein Blickfang im dunklen schlafenden Tal. Man konnte von hier nicht alle Details erkennen, aber ich war fest davon überzeugt, dass hinter jedem Fenster Licht brannte und die Gäste auf ihren Zimmern gemütlich fernsahen oder sich mit anderen unkomplizierten Dingen beschäftigten. Unverkennbar waren die großen Fenster des Eventrestaurants, die wie Scheinwerfer in die Nacht hineinleuchteten. Das war das Stichwort! Wir mussten uns beeilen. Die Tür ins Restaurant stand noch weit offen, als wir das Hotel betraten, nachdem uns die Passstraße ohne besondere Vorkommnisse zu unserer Unterkunft hinuntergeführt hatte. Den Weg vom Pass bis zum Hotel hätte ich inzwischen auch mit verbundenen Augen gefunden. Zum Abduschen oder zum Umziehen fehlte die Zeit, sodass die Kellner und die letzten Gäste, die ungeachtet der späten Stunde noch hier und da an den Tischen im Speisesaal saßen, heute mit unseren verschwitzten und schmutzigen Wandersachen ausnahmsweise mal vorliebnehmen mussten.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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