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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 103
Wir hievten unsere Rucksäcke auf den Rücken und marschierten los. Der Wanderpfad verengte sich abermals und führte nach wie vor entlang der endlosen steilen Felswand. Ich legte ein gutes Tempo vor, um noch das letzte Dämmerlicht zu nutzen und so weit wie möglich zu kommen, ehe es stockfinster wurde. Man konnte auch jetzt schon den halb zugewachsenen Pfad kaum von der Umgebung unterscheiden, aber ich hatte keine Bedenken, dass mein nächster Schritt den Trampelpfad traf, denn zwischen dem Fels rechts und dem Abgrund links gab es nur einen vielleicht drei Meter breiten Vorsprung, man konnte nicht viel falsch machen, wenn man immer in der Mitte blieb. Unsere kleine Taschenlampe wäre in diesem Augenblick das Richtige gewesen, aber sie lag seelenruhig auf dem Zimmer im Hotel. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass unsere Wanderung zu dieser fortgeschrittenen Stunde bei Nacht und Nebel zu Ende gegangen wäre. Der verflixte kräftige Anstieg hatte uns um die eine oder die andere Stunde aufgehalten. Durchaus, wenn man alle damit verbundenen Rasten und Verschnaufpausen zusammenrechnete. Erfreulicherweise konnte ich mich seitdem voll regenerieren, es ging mir gut, ich konnte klar denken und meine Beine waren zwar fast gefühllos, bewegten sich dafür aber schnell und sicher. Mich fröstelte es im feuchten, kalten Nebel trotz schneller Bewegung, ich bereute schon, dass ich während der letzten Rast nicht in meine Jeans geschlüpft war, aber anhalten wollte ich nicht mehr, jede Minute zählte. Der Weg zog sich und zog sich immer weiter entlang der mit Brombeergestrüpp bewachsenen Felswand. Es kam mir vor, dass wir wieder stundenlang unterwegs waren, obwohl es nicht stimmen konnte, denn ein wenig Licht war immer noch da, ich erkannte den Pfad schattenhaft zwischen den Sträuchern. Unverhofft vernahm ich ein Geräusch, das weder zum Berg noch zum Pfad oder zum Nebel gehörte. Ich hielt abrupt an, sodass Geli von hinten gegen meinen Rücken lief, und hörte aufmerksam in die dunkle, neblige Stille hinein. »Hast du es gehört?«, fragte ich sie. »Was? Wieder Stimmen?«, wollte meine Frau ihrerseits wissen. »Nein. Warte, da war was anderes. Moment.« Ich stand wie angewurzelt und vermied es, laut zu atmen, um die Quelle des Geräuschs zu bestimmen, falls es sich wiederholte. Geli trat ungeduldig auf der Stelle, während ich noch versuchte, auch nur den leisesten Ton zu vernehmen und eigentlich schon innerlich bereit war, unverrichteter Dinge weiterzuziehen, als irgendwo von unten aus der Dunkelheit ein deutliches Hundebellen erklang. »Das ist ein Hund, denke ich. Oder?«, stellte Angelina Vermutungen an. »Und was für einer!«, gab ich fröhlich zur Antwort. »Das ist der Hund vom Berghof am Pass. Wir sind angekommen!«
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Jetzt merkte ich auch, dass der Pfad inzwischen nach Norden abgedreht haben musste, denn uns entgegen wehte ein kühler Luftzug. Dass die Felswand keinen Schutz mehr vor dem kalten Nordwind bot, bedeutete nur eins: Wir wanderten gerade um eine Bergspitze herum auf ihrer Westflanke, vielleicht um den Turmberg, die Sicht nach Norden musste offen sein und links unten lag der Berghof sowie der Pass Encumeada – das Ende der Wanderroute 1.3 am Wegweiser unweit des Felsdurchbruchs. Wir waren am Anfang der Zielgeraden, die jedoch äußerst ungerade und steil nach unten führte. Nun nahm ich den Richtungswechsel nicht nur aufgrund der Schlussfolgerungen wahr, die ich in meinem Kopf anstellte. Mein Gleichgewichtssinn sagte mir, dass der Pfad sein Gefälle geändert hatte und jetzt unaufhaltsam nach unten führte, und mein Sinn, der für die Orientierung zuständig war, flüsterte mir unermüdlich ins Ohr, dass wir uns beinahe in die entgegengesetzte Richtung bewegten. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als wir unter unseren Füßen die felsigen Stufen einer in den Berg gehauenen Treppe spürten, stand fest, es war der Abstieg vom Bergrücken. Wie eine gigantische Wendeltreppe führte uns der gestufte Weg im Uhrzeigersinn steil nach unten. Wir nahmen zwei Stufen auf einmal, sogar Angelina vergaß ihre Wadenprobleme, dafür gab es keine Zeit! Und – o großes Wunder! – es wurde heller, mit jedem Meter, den wir nach unten stiegen. Offensichtlich war es in Wirklichkeit noch nicht ganz dunkel, nur unter der Wolkenhaube auf dem Berggrat herrschte die finstere Nacht. Obgleich die Sichtverhältnisse nunmehr wesentlich besser geworden waren, brachten sie nur wenig Trost, denn nach hundert Metern hörten die Stufen des Wendelsteins auf und machten Platz riesengroßen abgeschliffenen Steinen. Der Pfad glich dem vertrockneten Bett eines früheren Wildbachs, der einst das Gestein glatt poliert hatte. Der Umstand, dass die Felsbrocken, groß wie ein Kleinwagen, vom feuchten Nebel mit einem dünnen glitschigen Wasserfilm überzogen waren, machte den Abstieg nicht einfacher. Wir sprangen von Stein zu Stein auf dem abschüssigen Pfad und riskierten bei jedem Sprung, auszurutschen und uns den Hals zu brechen. Es ging nur langsam voran, man musste sich sorgfältig den nächsten Stein aussuchen, der einem vertrauenswürdig genug erschien, um darauf stehen zu können. So kurz vor dem Ziel kam mir die Tortur wie eine ungerechte Strafe vor. Ich hatte heute kein schlechtes Wort über den Erlkönig gesagt! Warum also? Warum mussten wir uns auf den letzten Metern noch so abmühen? Es fiel mir jetzt nicht schwer zu begreifen, warum die Wanderroute vom Encumeadapass aus nur für konditionsstarke Wanderer empfohlen wurde. Ich fragte mich, was ich heute Morgen auf diesem Abschnitt getan hätte, wenn wir die entgegengesetzte Richtung gewandert wären. Höchstwahrscheinlich hätte ich mich umgedreht und wäre zurück ins Hotel gegangen.
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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