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Das Geheimnis des vernebelten Passes: Seite 100
»Klar«, antwortete er bereitwillig und schaute mit Interesse auf das Gewirr aus Draht, das ich mitgebracht hatte. »Wir basteln gleich eine Abschleppstange. Pass auf, hältst du mal dieses Ende?« Er richtete sich auf. Eigentlich ging es ihm ganz gut, solange er das Bein ausgestreckt hielt. Er humpelte sogar ein paar Schritte bis zum Baum, um Halt zu finden. Während er auf dem gesunden Bein stand und in einer Hand das Ende hielt, versuchte ich den Drahtknäuel zu entwirren. Entsprechendes Werkzeug, um die geknickten Stellen geradezubiegen oder das Eisenstück auf eine passende Länge zuzuschneiden, hatten wir nicht mit, so konnte ich nur mit der bloßen Kraft meiner Hände das Stück Draht in eine Form bringen, die sehr entfernt den Verlauf einer geometrischen Geraden nachahmte. Dann knickte ich den Draht einmal in der Mitte und legte die Schlinge um das Sattelrohr meines Fahrrads. Danach stellte ich das zweite Rad hinter meins mit einem passenden Abstand. Die beiden anderen Enden des Drahtseils knickte ich an der Lenkerstange des hinteren Fahrrads und die noch verbliebenen Endstücke wickelte ich so gut es ging um die entstandene Verbindung zwischen den beiden Fahrrädern. Das sah alles sehr krumm und hässlich aus, erfüllte aber seinen Zweck. Ich zog den angeschlagenen Kumpel hinter mir her auf der buckligen Feldstraße und mir wurde zeitweise schwarz vor Augen wegen der Anstrengung. Meine Beine, die das Gewicht von zwei Personen, zwei Fahrrädern und zwei großen Rucksäcken hinter unseren Schultern bewegen mussten, spürte ich zuweilen nicht mehr, doch die nötige Energie zum Weiterfahren gab mir auf einmal die Erkenntnis, dass der Junge zumindest seinen kleinen Beitrag leistete. Ich merkte an unseren Schatten rechts neben dem Weg, dass er mit dem gesunden Bein nach Möglichkeit auf das linke Pedal trat, während das andere leblos herunterhing. Ich konnte ihn nicht zurücklassen, ich musste ihn hier herausholen. Aus letzter Kraft zog ich ihn auf den Damm einer festen Schnellstraße, wo wir im Wartehäuschen einer Bushaltestelle eine Rast einlegten. Die Straße war zwar geteert und rein theoretisch hätte ich es ab sofort leichter haben sollen, aber zahlreiche Schlaglöcher waren nach wie vor ein fester Bestandteil des Straßenbelags, außerdem gesellte sich dazu noch ein kräftiger Gegenwind, der für Radfahrer im offenen Gelände einer Fernstraße zu reinster Qual werden konnte. Zumindest bestand auf einer schnurgeraden Strecke die Möglichkeit, eine mehr oder weniger konstante Geschwindigkeit zu halten. Wir fuhren noch weitere zehn Kilometer huckepack auf der Schnellstraße, ich kam auf eine gewisse Geschwindigkeit und versuchte, sie um jeden Preis zu halten. Ich behalf mich damit, dass ich bei jedem Tritt in die Pedale rhythmisch mit dem Kopf vor und zurück wackelte, manchmal aber auch den ganzen Oberkörper nach links oder rechts schwenkte im Takt der Beinbewegungen, um eine zusätzliche Kraft auf das Pedal zu übertragen …
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Damals hatte ich nicht eins – drei gezählt, aber es war dasselbe gewesen, wenigstens sah ich das so. Ich hatte nur ein anderes inneres Metronom für die Taktzählung eingesetzt: Das rhythmische Kopfwackeln. Ein paar Jahre nach der Fahrradtour, die zum Schluss doch noch ein glückliches Ende genommen hatte, heiratete mein Kumpel und unsere Wege trennten sich. Seine Frau war nicht besonders gut auf seine alten Bekanntschaften zu sprechen und mehrtägige Fahrrad- oder Wandertouren reizten sie am allerwenigsten. Etwas später erfuhr ich, dass die beiden seit geraumer Zeit wieder ihre eigenen Wege gingen und obwohl die alte Freundschaft nicht mit neuer Kraft entflammt war, trug ich diese Erinnerung bis heute mit mir herum. Vielleicht lag der Grund hierfür auch darin, dass mir bei dem Ausflug etwas unvergesslich Dummes passiert war: Vor lauter Aufregung und Erschöpfung hatte ich meinen schweren Rucksack im Wartehäuschen der Haltestelle einfach vergessen und mich erst nach zehn Kilometern daran erinnert! Was sich da für Möglichkeiten geöffnet hatten, um die Effizienz des rhythmischen Kopfwackelns während des kleinen Umweges zurück zur Haltestelle zu testen, hätte mir kein Mensch geglaubt! »Hier bricht der Berg ab!«, rief Angelina mir zu, während sie sich aufmerksam eine Stelle an der Felswand ansah, die ein Teil eines Zwischengipfels war, eine von der Erosion angeknabberte felsige Spitze. »Wo? Was?«, wollte ich wissen, als ich die Stelle erreicht hatte. Ich blieb röchelnd stehen und putzte mir die Brille. In der Felswand gähnte ein einen halben Meter breiter Spalt, der von der Spitze bis an unsere Füße reichte und sich auf der anderen Seite des engen Pfades fortsetzte. Man konnte auf die andere Seite des Felsens hindurchsehen. Auf dem Pfad war der Riss zwar nicht so groß, sondern nur ein paar Zentimeter breit, aber man war gut beraten, wenn man darüber stieg und nicht mit dem Fuß darauf trat. Ich versuchte gedanklich, die Linie des Risses weiter durch den Hang nach unten zu ziehen und stellte mit Entsetzen fest, dass sich hier ein gutes Drittel des gesamten Berges abspaltete. Bei einem Erdrutsch hätte der Berg das halbe Nonnental unter sich begraben! »Abhauen, Blonde!«, forderte ich meine Frau auf, den Bereich der zukünftigen Abbruchkante schleunigst zu verlassen. »Spring jetzt bloß auf die sichere Seite!«
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KurzinhaltEin Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.Über den Autor
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