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Der Brockenwicht: Seite 79
Sie hatte wirklich einen Riesenhunger, wie es aussah, denn die Kartoffelsuppe war das Erste, was in der Liste der Speisen und Getränke aufgeführt war und allem Anschein nach besaß meine Frau vor lauter Hunger weder Kraft noch Geduld, um weiterlesen zu können – sie hatte einfach das Erstbeste genommen, was sich nach einer deftigen Mahlzeit anhörte! »Ein Würstchen kriegst du auch zu der Erbsensuppe!«, meinte ich spöttisch. Sie sah mich irritiert an und richtete ihre Augen wieder auf den Aushang. Ihr Blick wanderte suchend von einem Ende der Tafel mit dem Speisenverzeichnis zum anderen. »Ja, dann nehme ich die Erbsensuppe«, korrigierte sie sich, nachdem ihre Augen auf dem entsprechenden Eintrag endlich stehen geblieben waren. »Ich auch. Ich glaube, sie wäre die bessere Alternative!« Es war nun wirklich höchste Zeit, etwas zu sich zu nehmen, denn nicht nur Angelina hatte Hunger. Das Knurren meines Magens konnte ich auch nicht mehr lange geheim halten. Er hatte bereits rebelliert und lautstark nach Nahrung verlangt, als wir unseren Rundgang im Brockenmuseum absolviert hatten, bevor wir das Café betraten. Das zeitgenössische Brockenhaus entpuppte sich als ehemalige Abhöranlage der Staatssicherheit, die seinerzeit wegen der auffälligen Radarkuppel auf dem Dach im Volksmund auf den Namen Stasi-Moschee getauft worden war. Unter der Kuppel standen noch bis heute die Parabolantennen und allerhand Abhörgerätschaften, die im laufenden Betrieb zurückgelassen worden zu sein schienen, als die verhassten Geheimdienstschnüffler den Berg im Angesicht der nahenden Gefahr vor dreißig Jahren fluchtartig verlassen hatten, – die langersehnte Freiheit hielt Einzug auf dem Brockenplateau. Ich fragte mich: Wie waren die Stasispitzel und das Hexenvolk all die Jahre auf dem Brocken miteinander ausgekommen? Ganz gut, konnte ich mir vorstellen! Denn am Ende hatten sie ein und denselben Oberboss. Die Betonmauer, mit der sich die Militärs auf dem Gipfel umgeben hatten, um ihre Schandtaten zu verüben, konnte für die Hexen kaum ein Hindernis sein. Im Gegenteil, sie mussten sich gefreut haben, dass sie so einen perfekten, menschenleeren Rückzugsort im Sperrgebiet gefunden hatten. Ich fand eine Bestätigung für meine Annahme: Auf den ausgestellten Gruppenfotos der sowjetischen Rotarmisten aus der Nachkriegszeit waren nicht nur Soldaten auf dem Brockengipfel abgelichtet, dazwischen ließen sich hin und wieder auch gespenstische Gestalten von nicht uniformierten Frauen ausmachen, die hässlich in die Kamera lächelten, und manche davon trugen gar keine Kleider. Doch hatte ich den Eindruck, dass sich diese Bildereinzelheiten nur meinen Augen öffneten. »Weißt du«, gestand Geli, als wir die Wendeltreppe zur Kuppel hinaufgestiegen waren, »es ist hier irgendwie gruselig.«
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Im halbdunklen Inneren der Kuppel diente nur die gläserne Tür, die zur Aussichtsplattform aufs Dach führte, als nennenswerte Lichtquelle. Ins Halblicht getaucht wirkten die Apparaturen unheimlich und blinkten boshaft aus den dunklen Ecken mit ihren roten und grünen Lämpchen wie vorhin die Zerbolte auf Patrouille mit ihren Augen in der finsteren Nacht. »Es ist wirklich nicht besonders gemütlich«, stimmte ich zu. »Okay, dann lass uns mal aufs Dach gehen. Die Aussicht soll hier fantastisch sein! Der Dichter hat es schon gesagt.« »Welcher Dichter?« »Auf dessen Spuren wir heute wandern! Welcher denn sonst? »Ach so …«, gab Angelina von sich und öffnete die Tür. Ein kalter Windstoß traf uns mit voller Kraft und ließ uns am ganzen Körper erzittern. Von den Kleidern tropfte es zwar nicht mehr, gleichwohl waren sie durch und durch nass und der Hautkontakt mit dem eiskalten Stoff der Hose an meinen Beinen war mit Abstand eines der unangenehmsten Dinge, die ich je erlebt hatte. Mein dünnes, feuchtes Poloshirt war ebenfalls denkbar schlecht dafür geeignet, Schutz vor den kalten Böen zu bieten. Unsere Regenjacken lagen im Schließfach. Zum Glück regnete es nicht mehr und der stürmische Wind arbeitete fleißig daran, die Wolkendecke auseinanderzutreiben. Es war noch kein blauer Himmel zu sehen, dennoch war es keine durchgehend graue Masse wie zuvor, die über unseren Köpfen hinwegzog. Die Decke bekam mit jeder Minute immer mehr Struktur. Hier und da zeichneten sich Konturen einzelner Wolken ab. Da war ein ganz schwerer, schwarzer Brummer, der sich geschwind in nordöstlicher Richtung vom Berg entfernte, dort – irgendein bizarres Gebilde aus weißem Wasserdampf, das etwas tiefer hing und sich kaum zu bewegen schien, und hier – ein ganz heller Fleck zwischen zwei bleiernen Schwaden in südlicher Richtung, der vermutlich in Kürze zu einer Lücke geworden wäre, durch die die Sonne hineinscheinen konnte. Die Sicht auf das gesamte Brockenplateau war bereits frei. Mehr noch, sie reichte weit über den Rand des Harzgebirges und ich glaubte sogar, in den bunten Mustern aus gelben Feldern und grünen Wäldern in der Ferne den Verlauf der Autobahn erkennen zu können.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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