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Der Brockenwicht: Seite 72
Es war ein ganz altes Kleidungsstück, das ich noch von unserer Reise nach Island vor zwanzig Jahren kannte. Zu der Zeit hätte man es noch als Regenjacke bezeichnen können, aber heute war sie gegen Regen genauso hilfreich wie ein Bettlaken. Die Imprägnierung hatte sich bereits längst aufgelöst, unter der Kapuze stachen Stofffetzen heraus, die Gummierung auf der Innenseite bröckelte ab wie bröseliger Putz von der Wand eines verfallenden Hauses. Eigentlich hatte ich angenommen, dass die Jacke schon lange nicht mehr Teil meiner Garderobe war, doch siehe da, ich entdeckte sie unerwartet in unserem Reisegepäck, als wir die Ferienwohnung in Bad Harzburg bezogen hatten. Meine liebe Frau hatte sie offenbar die ganze Zeit irgendwo aufbewahrt und kam zum Schluss, die alte Regenjacke hätte bei der Harzreise noch von großem Nutzen sein können. Ich schlüpfte in die Jacke, so hatte ich zumindest noch eine zusätzliche Kleidungsschicht auf meinem Körper, die mich gegen Wind und Wetter schützte. Es war höchste Zeit, dass ich mich wieder in Bewegung setzte. Wie in der Überlieferung vom Propheten und dem Berg würde sich der Brocken nicht von alleine auf mich zubewegen, ich musste mich schon selbst den letzten, kleinen Anstieg nach oben mühen, den gerade auch meine Angelina mit großem Krafteinsatz zu bewältigen versuchte. Sie hatte inzwischen schon fast den magischen Kreis erreicht, aber ich konnte sogar aus der Ferne erkennen, dass sie absolut erschöpft und niedergeschlagen war – sie konnte kaum ihre Beine bewegen. Ich warf den Rucksack, der ohne Regenjacke wesentlich schlanker geworden war, auf meinen Rücken und wollte schon den ersten Schritt machen, als mir noch etwas Wichtiges einfiel: Es war bestimmt besser, wenn ich das Tor zur Unterwelt hinter mir wieder schloss, damit sich nicht jemand zufällig verlief und in die Falle tappte. Ich drehte mich um und erstarrte vor Verwunderung beim Anblick dessen, was ich sah. Nämlich gar nichts außer dem Betonplattenweg, der sich in leichten Kurven nach unten schlängelte! Die Pforte in die Hölle war verschwunden. Es gab keine Spiegelwände, es gab keine Lagerfeuer, es gab nichts davon, was ich in den letzten Stunden erlebt hatte. Nichts! Was für ein Spiel wurde hier wieder gespielt? Der Vorfall riss mich zurück in die Realität, falls man es so nennen durfte. Mir wurde plötzlich bewusst, ich war noch lange nicht aus dem Schneider, auch wenn ich dem dunklen Reich scheinbar entflohen war. Vom Gipfel war ich noch weit entfernt und trotz der Tatsache, dass es hell geworden war, befand ich mich nach wie vor in einer Gegend, wo blutrünstige Zerbolte jeden Augenblick auftauchen konnten. Die Sicherheit, dass mein Deal mit dem Teufel noch seine Gültigkeit hatte, gab es bei mir nicht mehr.
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Der rettende Kreis lag höchstens dreihundert Meter vom Bahnübergang entfernt, Geli hatte ihn schon erreicht und wartete auf mich, während sie sich ihre Regenjacke überzog. Das Gefälle war minimal, ich hätte es in fünf Minuten schaffen können, wenn ich mich beeilen würde, dachte ich übermütig und machte mich im Laufschritt auf den Weg. Schon auf halber Strecke geriet ich außer Atem und musste anhalten. Ich blickte zurück, nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, sodass ich wieder klar genug denken konnte, um in Erfahrung zu bringen, wie weit ich an einem Stück gekommen war, und das Blut gefror in meinen Adern vor Schreck. Drei Zerbolte näherten sich schnellen Schrittes dem Bahnübergang von der anderen Seite. Wegen dem grauen Regenschleier, der alles in der Ferne verschwommen erscheinen ließ, konnte ich sie nur als schattenhafte Gestalten sehen, aber sie waren es eindeutig, die widerlichen Hundeköpfe mit den roten heraushängenden Zungen konnte ich ganz deutlich erkennen. Was sollte ich machen? Sie würden mich in einer Minute eingeholt haben, und dann? Laufen! Es war die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Laufen, so schnell und so weit es ging, mindestens aber bis zum Rundweg. Ich rannte los um mein Leben … »Verdammter Mist!«, fluchte ich wie ein Bierkutscher, als ich bei Geli mit weichen Knien und vor Anstrengung benebeltem Verstand ankam. »Was ist jetzt los? Verflucht …« Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, konnte meine eigene Stimme aber kaum hören, geschweige denn Gelis Worte, die sie an mich als Antwort aus zwei Metern Entfernung richtete! Ein schlimmes Unwetter war plötzlich über dem Berg ausgebrochen, sobald ich meinen Fuß auf den Rundwanderweg gesetzt hatte. Armdicke Tannen bogen sich im aufheulenden Wind bis zum Boden wie schmächtige Grashalme. Im Himmel drehte sich ein von Blitzen durchzogener Wolkenwirbel, der alles unter sich begrub. Innerhalb von Sekunden verfinsterte sich die Umgebung und es fing an, wie aus Eimern zu gießen. Gepeitscht von stürmischen Böen prasselten die Wassermassen fast waagerecht gegen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Im Nu durchnässte meine alte Regenjacke bis zur letzten Faser und schon bald spürte ich mit Unbehagen, wie das kalte Wasser in Strömen auf der Haut an meinen Beinen hinunterfloss.
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KurzinhaltDie Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes Faust auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?Über den Autor
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